Die Macht ist mit dir

„Es gibt stets etwas in uns, das gegen etwas anderes in uns kämpft“: Im dritten Band der Schriften und Reden Michel Foucaults kann man ihm beim Denken zusehen – und beim Erfinden jener Schlüsselwörter, ohne die heute in der Ära der Ich-AGs kein sozialphilosophischer Diskurs mehr auskommt

Die Macht hat keinen Zentralort, von dem sie ausgeht, argumentiert FoucaultMacht ist produktiv. Es ist sinnlos, den repressiven Charakter der Macht zu betonen

VON ROBERT MISIK

Der Mann war, zu Lebzeiten schon, nicht irgendein Professor. Trotz seiner Vortragsweise, die schrill mit den antiautoritären Zügen der Zeit kontrastierte, drängten sich die Studenten in seinen – im Wortsinn – Vorlesungen. Weil sonstige Zugangsbeschränkungen nicht möglich waren, legte er die Veranstaltungen auf 9.30 Uhr am Morgen, in der Hoffnung, so Studenten abschrecken zu können. Seitdem er den Lehrstuhl am Collège de France 1970 übernommen hatte, war Michel Foucault im französischen Gelehrtenolymp angekommen.

Jetzt, zwei Jahrzehnte nach Foucaults frühem Aidstod, wird sein Oeuvre nach und nach auch auf Deutsch komplettiert. Seit zwei Jahren bringt der Suhrkamp Verlag Foucaults Reden und Schriften heraus. Band drei der auf vier Bände zu rund tausend Seiten angelegten Ausgabe ist gerade erschienen.

Am Ausgangspunkt des Foucault’schen geistigen Abenteuers stand die Frage nach der Ordnung des Wissens und der jähen Umwandlung dessen, was zu gegebener Zeit denk- und vorstellbar ist. Das Wissen hat seine Ordnung und jede Ordnung ihr Wissen. Über die Stücke aus den Jahren 1976 bis 1979 hinweg lässt sich nun die Wandlung der Perspektiven und Interessen des Philosophen (der sich selbst immer als Historiker bezeichnete) genauer studieren. „Ich habe lange geglaubt, das Problem, das mich eigentlich bewegte, sei eine Analyse des Wissens und der Erkenntnisse“, sagt er einem Gesprächspartner. „Heute glaube ich nicht mehr, dass dies mein Problem war. Mein eigentliches Problem […] ist das Problem der Macht.“

Nichts beschäftigt Foucault in den Siebzigerjahren so wie die Frage der Macht. Und es ist faszinierend, zu sehen, wie ihn diese Frage als Aktivisten anspringt, in doppeltem Sinn. So engagiert er sich einerseits über Jahre hinweg intensiv für die Rechte von Strafgefangenen. Andererseits entwickelt er seine Gesichtspunkte in der Auseinandersetzung mit der traditionellen Linken – in der er viele Freunde hat –, die die Macht nur als staatliche Repression wahrnahm, die selbst die Ideologie noch, wie Louis Althusser etwa, in Staatsapparaten verortete.

Foucault argumentiert auch gegen die letzten Restbestände solchen Etatismus an, ganz zu schweigen von den simplen Dichotomien wie „oben versus unten“.

Die Macht hat keinen Zentralort, von dem sie ausgeht, argumentiert er. „Die Macht, das existiert nicht.“ Die Diskurse (eines der von Foucault modern gemachten Worte) sind zwar von Macht geordnet, aber die Macht „ist weder Quelle noch Ursprung des Diskurses“. Die Macht vollzieht sich über den Diskurs, sie ist etwas, das „nur in actu existiert“. Sie „übt sich als Netz aus“, in Maschen und Kapillaren, berieselt „den gesamten Gesellschaftskörper und bis in seine feinsten Poren hinein […] mit Machteffekten“.

Die Macht geht durch die Individuen nicht nur hindurch („Es gibt stets etwas in uns, das gegen etwas anderes in uns kämpft“), das Individuum selbst „ist eine Wirkung der Macht“. Der Mensch, von dem die traditionelle Linke glaubte, er müsse befreit werden, und zwar mittels Zerschlagung der Institutionen der Unterdrückung, ist ja selbst immer schon das Resultat einer Unterwerfung. Die Macht ist produktiv. Aus solcher Perspektive ist es natürlich völlig sinnlos, allen Ton auf den repressiven Charakter dieser Macht zu legen. Geradezu leidenschaftlich argumentiert Foucault über die Jahre hinweg gegen die Vorstellung an, die Macht sei etwas, vergleichbar mit einem Gesetz, „das Nein sagt“.

„Ich glaube“, sagt er, „dass darin eine ganz und gar negative, enge und dürre Auffassung von der Macht vorliegt, […] dass sie in Wirklichkeit die Dinge durchläuft und hervorbringt, Lust verursacht, Wissen formt und einen Diskurs produziert; man muss sie als ein produktives Netz ansehen.“

Es ist dies der Punkt, an dem Foucault Mitte der Siebzigerjahre steht. Er hat die großen strukturierenden Mächte ein bisschen aus seinem Blick geschoben und die Mikrophysik der Macht zu seinem Thema gemacht. Doch irgendwie blieb seltsam vernebelt, inwiefern sich Herrschaft, Staat, Regierung – fast ist man versucht, diese großen Begriffe in Anführungszeichen zu setzen – in die Machteffekte in den Kapillaren, an der Peripherie, in den Individuen selbst übersetzen.

Hier plötzlich bringt Foucault den Begriff der Gouvernementalität ins Spiel, ein schillerndes Wort: nicht Macht, nicht Herrschaft, nicht Repression, klingt hier an, sondern „Regieren“, aber auch „Mentalität“, die Entwicklung eines Leitungstypus und eines Typus des Geleitetwerdens, eines Verhaltenstypus. Frühere Gesellschaften haben sich für Abgaben und den Tribut der Unterworfenen interessiert, aber nicht für die Bevölkerung als solche. Die moderne Macht dagegen interessiert sich für jeden Einzelnen: sein Fortpflanzungsverhalten (Demographie!), seine Ausbildung, seine Gesundheit, seine Normierung, kurzum – seine Erfassung. Das Herrschaftsverhältnis erinnert an das Bild von Hirten und Herde – „Pastoralmacht“ nennt Foucault diesen Machttypus in Anlehnung an das christliche Bild. Macht wird zur „Regierung“, zur spezifischen Technik, deren Zweck ist, über hunderte und aberhunderte Stellschrauben und Mechanismen Machteffekte zu erzielen. Machteffekte, die in die Individuen einwandern, diese umformatieren, Verhalten produzieren, aber auch Werte und Gewissen, und die so wiederum auf die Macht zurückwirken. An dieser Stelle macht Foucault sich auch explizit Gedanken über den Neoliberalismus, der weniger durch positive „Ziele“ definiert sei als vielmehr durch eine „kritische Reflexion über die Regierungspraxis“: Er werfe „die Frage des ‚zu viel‘ Regierens“ auf und zielt auf eine neue „gouvernementale Vernunft“. Da ist Foucault so aktuell, als wäre er noch unter uns.

Man ist gefesselt von diesen tausend Seiten, man sieht Foucault beim Denken zu und beim Streiten. Es graut ihm davor, ein typischer Mandarin zu werden mit dem Sartre’schen Intellektuellen-Heiligenschein, und er mischt sich dennoch ein, erhebt seine Stimme, etwa gegen die Auslieferung von Claus Croissant, dem deutschen Anwalt, dem Unterstützung der RAF vorgeworfen wurde.

Man kann diesen Band auch als Einführung in Foucaults Denken lesen. In den Gesprächen und Vorträgen kommt er immer wieder auf seine Thematiken zurück, die Wiederholungen erleichtern das Verständnis, was womöglich jene schätzen werden, denen Foucaults große Studien zu hermetisch sind, die oft zwischen essayistischer Brillanz und äußerster Sprödigkeit schwanken. Man beobachtet die Begriffe gewissermaßen im Moment ihrer Entstehung, Foucault’sche Termini, die sich heute in jedem, ja, Diskurs finden: Biomacht, Disziplinen, Selbsttechnologien. Heute sind diese Begriffe die Schlüsselwörter der Ich-AG-Ära, die Foucault analytisch vorwegnahm: das Einwandern der Macht in die Subjekte, von dem Foucault sprach, etablierte zweifellos jene Technologien der Selbsterfindung, aber auch der Selbstdressur, ohne die das reibungslose Funktionieren der flexiblen Menschen am Markt gar nicht möglich wäre. Fast unmerklich führt Foucault diese Begriffe ein, die heute fixer Bestandteil sozialwissenschaftlichen Räsonierens sind. Sie tauchen auf, um ein Problem einzugrenzen, das der Denker schon lange hin und her wälzt. Indem er jetzt vor unser aller Augen wälzt, ist der Nebeneffekt: Foucault erklärt Foucault, immer wieder.

Und er zeigt sich als leidenschaftlicher Intellektueller, der alle paar Jahre seine Studien beiseite schiebt, um sich in ein Ereignis zu versenken. 1978 war dieses Ereignis die iranische Revolution. Foucault war fasziniert und auch ein wenig begeistert von der politischen Spiritualität, sah in der islamischen Revolution „die modernste und irrsinnigste Form der Revolte“.

Foucault fährt mehrmals in den Iran, trifft Oppositionelle und Ayatollahs – Chomeini, der damals im Pariser Exil lebt, begegnet er aber nie – und schreibt Reportagen für italienische und französische Zeitungen. Die sind von Beginn an von einer erstaunlichen Sensibilität für den „Wunsch nach einer radikalen Veränderung des Daseins“, der über das bloße Ziel, den Schah zu stürzen, schnell hinausgeht. „Das Problem des Islam als einer politischen Kraft ist für unsere Zeit und die kommenden Jahre von zentraler Bedeutung“, schreibt Foucault, und an anderer Stelle: „Der Islam – der nicht bloß eine Religion ist, sondern eine Lebensweise, eine Zugehörigkeit zu einer Geschichte und einer Kultur – droht ein gewaltiges Pulverfass zu werden.“ Foucault muss sich in der Folge sagen lassen, er habe die Entstehung einer neuen Despotie verniedlicht, er wird von seinen linken Freunden gescholten, religiöser Narretei eine emanzipatorische Glasur zu verpassen. Aber gerade aus der Perspektive des Jahres 2004 hat man doch eher den Eindruck, dass es dieser Empathie bedurfte, um die Energie zu ermessen, die ein Ereignis wie das von Teheran freisetzte.

Eine Revolte ist eine Revolte, mit einer eigentümlichen Würde und historischen Kraft; auch, wenn bärtige Männer ihre Posterboys sind, und ziemlich unabhängig davon, was aus ihr wird. Wäre es anders, wäre sie ungefährlich.

Michel Foucault: „Dits et Ecrits“. Schriften in vier Bänden. Herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald. Band 3. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003, 1.028 Seiten, 56 €