Das Versagen der Eliten

Derzeit scheinen viele Politiker zu denken: Die Wahrheit ist den Bürgern nicht zumutbar. Statt die sozialen und ökonomischen Probleme anzupacken, führen sie Machtspiele auf

Klientelpolitik ist stets konkret undkurzfristig, aber auch der Weg zum Niedergang

Der Krieg gegen den Irak hatte bekanntlich einen Grund: Massenvernichtungswaffen. Einen Grund hatte auch die Entlassung des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit: Beraterverträge. Einen besonders überzeugenden Grund hatte schließlich die Legalisierung der sowjetischen Enteignungen nach 1945 durch den Einigungsvertrag: Es hätte sonst keine Vereinigung gegeben.

Natürlich: alles verschiedene Dinge, nicht zu vergleichen. Wo, bitte, steckt das Gemeinsame hinter dem Krieg im Irak, der Intrige in Nürnberg und der Legalisierung der sowjetischen Bodenreform? Hinter ihnen zeigt sich, wie in einem Palimpsest, immer das gleiche Muster, ein verborgener Text, den man in drei Sätzen resümieren kann: In der Politik darf man den Leuten nicht die Wahrheit sagen. Der Zweck heiligt die Mittel. Alles ist erlaubt, was Vorteile bringt: Geld, Macht oder das erhabene Gefühl, das Gute getan oder die Achse des Bösen besiegt zu haben.

So werden Lüge und Täuschung zu normalen Mitteln der Politik. Wenn sie eines Tages offenbar werden, ist die Karawane längst weitergezogen. Die Massenvernichtungswaffen im Irak hat es nicht gegeben. Ein Bericht wird kommen, wenn die Wahlen vorbei sind. Von den Beraterverträgen bleibt einer übrig, und auch der nur wegen eines Formfehlers. Von sowjetischen Bedingungen für die deutsche Einigung könne man nicht wirklich reden, deutet jetzt sogar Helmut Kohl an.

In all diesen Fällen geht es nicht so sehr darum, was sie getan haben, sondern wie sie es getan haben: hinter einem Schleier von Täuschungen, die der politischen Öffentlichkeit, beim Irakkrieg der ganzen Welt, etwas vorgemacht haben. In all diesen Fällen mag es gute Gründe gegeben haben, das eigentliche Ziel zu verfolgen. Immer jedoch hat für die Akteure das Risiko bestanden, nicht zum Ziel zu kommen, wenn sie sagen, was sie wissen; wenn sie auf die „königliche“ Lüge verzichten, die schon Platon brauchte, um seinen idealen Staat zu begründen. Und gute Zwecke sind es aus Sicht der Akteure ja immer, derentwegen sie zu fragwürdigen Mitteln greifen. So bauen sie täuschende Konstruktionen, überzeugt davon, die Welt, das Volk, der „common man“ sind zu dumm, um die Wahrheit zu vertragen.

Das nämlich ist des Pudels Kern: die heimlich-unheimliche Überzeugung, dass Demokratie in schwierigen Zeiten nicht ohne ein gewisses Maß an Lüge, Täuschung und Irreführung der Öffentlichkeit auskommen kann. Das ist nicht neu, so haben Skeptiker schon immer ihre Zweifel als Argumente gegen die Demokratie in Stellung gebracht. Doch sollte klar sein, was dies bedeutet. Wer so denkt, handelt mit Vernichtungswaffen besonderer Art. Sie wirken leise und langsam, greifen die Nerven der Regierung und der demokratischen Öffentlichkeit an. Die verheerende Wirkung spürt man erst, wenn es zu spät ist. Sie räumen das Gelände frei für eine mehr oder weniger benevolente, mehr oder weniger aufgeklärte Diktatur, die ja durchaus auch in demokratischen Kostümen daherkommen kann.

Eine starke Demokratie hingegen lebt von dem Glauben, von einem idealistischen Vorgriff sozusagen, dass der „common man“ ein alles in allem vernünftiges Wesen sei. Dass er guten Gründen zugänglich und im Verein mit verantwortlichen Politikern und einer kritischen Öffentlichkeit in der Lage sei, den langsamen Niedergang von Wohlstand und Wohlfahrt, von öffentlicher Moral und am Ende der Demokratie selbst zu verhüten. Bürger, die mehr sind als Konsumenten, Politiker, die mehr sind als Stimmenfänger und Medien, die nicht alles der Quote und Auflage opfern, das sind im Wesentlichen die Fundamente, mit denen auf Dauer eine Demokratie steht oder fällt.

Jede Demokratie (und auch jede Marktwirtschaft) lebt von ungeschriebenen Gesetzen. Wenn sie gebrochen werden, hält die beste Verfassung nicht stand. Zum historischen Erbe der Deutschen gehört, dass sie sich das Ende einer Demokratie nur in der Dramaturgie von 1933 vorstellen können. Aber die zweite deutsche Demokratie wird, schlimmstenfalls, nicht mit Fahnen und Fackeln zu Grabe getragen, nicht dramatisch sterben – sie schwindet einfach dahin, an einer inneren Schwäche. Formen und Fassaden bleiben.

Doch: Es gibt Gründe zur Hoffnung und Anlass zu Sorge. Die politische Kultur der Deutschen ist vermutlich wirklich eine andere geworden. Das Land ist wohl demokratischer und offener als früher. Am erstaunlichsten ist der Wandel der Militärkultur im Lande, in der Bundeswehr wie in den Köpfen der Menschen: Sie sind ziviler, demokratischer und friedlicher geworden. Auf eine kritische Öffentlichkeit in den – meisten – Medien ist noch immer Verlass. Nicht von extremen Kräften auf der Rechten oder Linken oder einem Volk von demokratisch unsicheren Kantonisten dazwischen droht der Demokratie Gefahr, sondern von politischen Eliten, wenn sie vergessen, was auf dem Spiele steht, und sich stattdessen auf ihre Machtspiele konzentrieren.

Nicht vom Volk oder von extremen Kräften droht der Demokratie Gefahr, sondern von politischen Eliten

Elitenversagen, das wäre, im schlimmsten Falle, der gemeinsame Nenner, auf den der Niedergang einer Demokratie damals wie heute gebracht werden könnte. Eine Demokratie kann scheitern, weil die Eliten versagen; weil sie nicht mehr in der Lage sind, die Probleme auch wirklich anzupacken, und sei es aus Rücksicht auf ihre Wähler. Klientelpolitik ist stets konkret und kurzfristig, aber auch der Weg zum Niedergang. Ist ein anderer Weg in rauen Zeiten, unter demokratischen Bedingungen und mit einem verwöhnten Volke überhaupt möglich, eine Politik also, die das Ganze und die Zukunft im Blick hat, die sich erst langfristig, dann aber für alle positiv auswirkt?

Die Ränkespiele in Nürnberg waren nicht nur eine Posse, sie sind ein Zeichen an der Wand: Mitten im Zentrum eines Stein gewordenen gesellschaftlichen Großproblems (Arbeitslosigkeit) und angesichts der Gefahr, dass sich der einstige Wettbewerbsvorsprung der Deutschen bald ins Gegenteil verkehrt und das Land wirtschaftlich und sozial zurückfällt, führen die beteiligten Akteure ein Stück auf, wie sie ihre Geländegewinne verteidigen, die einen den schon lange ungeliebten Reformer in die Wüste schicken und die anderen der Regierung eins auswischen und ihren Mann an die Spitze bringen und alle zusammen ihre Pfründen verteidigen – und als Gründe die Beraterverträge vorschieben.

Aber wer weiß, vielleicht hat mit der Kabale von Nürnberg bereits das Endspiel des deutschen Korporatismus begonnen. Vielleicht entdeckt der deutsche Kanzler bald, dass er im Jahre 2006 so oder so schon Rekorde eingestellt haben wird: fast so lange im Amt wie Helmut Schmidt, zweimal in Folge die SPD zur stärksten Partei gemacht. Scheitern kann er eigentlich nur noch, wenn er mit eingerollten Fahnen untergeht. Ein Sieg noch in der Niederlage aber könnte es werden, das Land aus der Selbsttäuschung heraus und an die neuen Realitäten herangeführt und so auf etwas dialektische Weise auch wieder Vertrauen in die Politik begründet zu haben. WARNFRIED DETTLING