„Die Idee funktioniert“

Kann man fünfhundert Anfängerinnen und Anfänger zu Talenten erklären? Ein Gespräch mit dem Berlinale-Leiter Dieter Kosslick über Sinn und Zweck des Talent-Campus, den er im vergangenen Jahr eingeführt hat

taz: Herr Kosslick, die Filmfestspiele fliegen fünfhundert unbekannte Nachwuchsleute aus aller Welt ein und lassen sie eine Woche lang übers Filmemachen reden. Was ist die Idee hinter diesem Programm?

Dieter Kosslick: Ich habe mich ja schon als Filmförderer in Nordrhein-Westfalen mit der Gründung der internationalen Filmhochschule in Köln befasst. Das ist eine Lieblingsidee von mir, dass Leute Gelegenheit haben sollten, über ihren Beruf nachzudenken, bevor sie richtig mit der Arbeit anfangen. Als Quasi-Produzent habe ich häufig mitbekommen, wie wenig ihnen klar ist, dass sie Verantwortung tragen, gegenüber ihrem Team und dem Publikum. Ich finde, Respekt vor dem anderen ist eine ziemlich wichtige Sache beim Filmemachen, oft genug habe ich das Gegenteil erlebt.

Als ich dann hierher kam, wollte ich junge Leute für das Festival interessieren. Wir haben die Reihe „Perspektive Deutsches Kino“ für den Nachwuchs gegründet, und eigentlich wollten wir auch sofort mit dem Talentcampus anfangen. Im ersten Jahr hat es aus Zeitmangel nur für einen Tag im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek gereicht, aber dann hatten wir Robert Altman und Carlos Saura dabei, und bei all der Energie im Saal war mir klar, dass die Idee richtig ist. Die Sache liegt mir am Herzen, schließlich habe ich meine Freundin, mit der ich bald ein Kind haben werde, bei den Kölner Workshops kennen gelernt.

An den Filmhochschulen macht man sich doch womöglich auch Gedanken über die professionelle Verantwortung.

Keine Frage, aber das Besondere sind doch die Stars und Regisseure, die zur Berlinale kommen und den Talenten erzählen können, wie und warum sie Filme machen. Wenn George Clooney mit einem jungen Filmemacher aus Bangladesch redet, dann ist das doch wunderbar und gar keine Konkurrenz zu den hiesigen Filmhochschulen. Das anfängliche Misstrauen ist weg. Sie haben gesehen, dass der Talentcampus für sie eine Chance ist, und machen mit.

Geht das überhaupt, fünfhundert Anfänger und Anfängerinnen bei einem Event zu Talenten zu erklären? Wie läuft das praktisch ab?

Das Einzige, was sie vorweisen müssen, ist ein einminütiger Film zur Bewerbung. In diesem Jahr waren es schon über dreitausend, da hat die Jury bei der Auswahl Schwerstarbeit geleistet. Es melden sich ja ganz unterschiedlich ausgebildete Leute aus allen Kontinenten, weil die Nachricht vom Talentcampus sich rasend schnell verbreitet hat. Und dann kommen sie mit dem Rucksack und verbringen eine tolle Woche zusammen. Das ist schon was, wenn man überall in der Stadt mit „Hi, I'm a talent“ begrüßt wird. Sie lernen sich kennen, hören zusammen die Lectures, sehen Filme und tauschen sich aus. Sie vernetzen sich weltweit und wir helfen ihnen dabei – das ganze Jahr hindurch übrigens. Es kostet sie übrigens nichts, der ganze Aufenthalt wird von unseren Sponsoren bezahlt, die Filmboard/Medienboard Berlin-Brandenburg und das Haus der Kulturen der Welt sind mit im Boot.

Im letzten Jahr konnten sich Teilnehmer für Kurzfilmproduktionen während des Campus und für die Nominierung zum „Berlin Today Award“ qualifizieren. Läuft das nicht auf einen Konkurrenzdruck wie bei den Castingshows hinaus?

Das sehe ich überhaupt nicht. Im letzten Jahr haben wir sie mit hochentwickelten Digitalkameras vertraut gemacht. Klar war, dass nur ein kleiner Kreis praktisch produzieren konnte. Dieses Jahr geht es um Sound, Filmmusik, Soundediting, da verlangen wir ihnen sicher auch einiges ab. Ich finde Wettbewerb nicht grundsätzlich schlecht, es ist ein kleiner Vorgeschmack auf die Härte des kommenden Berufslebens. Aber beim Talentcampus steht das Produzieren nicht im Vordergrund, anders als bei den Filmhochschulen, wo jeder quasi automatisch seinen Film macht.

Wollte man alle Filme der Berlinale sehen, käme man auf mehr als sechs pro Tag, die Zeit für die andere Veranstaltungen nicht mitgerechnet. Dazu der Talentcampus, der zum Teil öffentlich zugänglich ist. Das Festival mäandert in vielen Sektionen, wird das nicht zu viel?

Nein, wir haben es um einen Tag verkürzt und die Sektionen klar getrennt. Für jede stellen wir ein extra Plakat her, das kostet eine Menge Geld. Aber jede soll erkennbar sein und ihre Chance zur Profilierung haben.

Gibt es Talentcampus-Events auch bei anderen Festivals?

Bald, denn wir werden mit Anfragen bestürmt. Es gibt viele Städte, die etwas Ähnliches planen. Da schicken wir dann Berater hin, die erklären, wie man so etwas organisiert.

Was war ihr stärkster Eindruck beim ersten Talentcampus letztes Jahr?

Als ich im Haus der Kulturen der Welt auf die Bühne ging und vor mir diese riesige Menge junger Leute sah, ging mir das richtig nah. Dann habe ich in den dunklen Saal gefragt: „Ist Grace Lee da?“ Die hatte ich mal in einer Hotelbar getroffen und lange mit ihr über die Idee des Talentcampus gesprochen. Dann stand sie wirklich auf und kam aus der Menge heraus auf die Bühne. Das war ein großer Moment. Ich wusste, die Idee funktioniert.

INTERVIEW: CLAUDIA LENSSEN