„Tränen sind heikel“

Ein Gespräch mit Andres Veiel über die Kunst, den Protagonisten Raum zu geben, die Ernst-Busch-Schule und sein Fasziniertsein von totalen Institutionen. „Die Spielwütigen“ läuft im Panorama

INTERVIEW CLAUDIA LENSSEN

taz: „Die Spielwütigen“ begleitet vier Schauspielschüler vom Anfang bis zum Ende ihrer Ausbildung: Karina Plachetka, Constanze Becker, Stefanie Stremler und Prodromos Antoniadis. Wie sind Sie mit der Materialfülle einer Langzeitbeobachtung umgegangen?

Andres Veiel: Zweihundert Stunden Material mussten wir klein hauen. Was die vier Entwicklungsgeschichten zusammenhält, das ist die Berliner Schauspielschule Ernst Busch. Bei der Aufnahme- und der Abschlussprüfung müssen sich die vier in einer Institution mit Elitecharakter bewähren. Wie wachsen sie in die Schule hinein, wo am Anfang noch viel kindliche Spontaneität da ist. Was macht die Institution mit ihnen, wie verändern sich Menschen darin? Das ist mein Thema.

Wie sind Sie auf Ihre Protagonisten gestoßen?

Ich habe nach Protagonisten gesucht, die Talent und Begabung haben und bereit sein sollten, auch außerhalb der Rolle etwas von sich zu zeigen. Es war schwierig, Leute zu finden, die jenseits der eigenen Egozentrik Neugierde aufs Leben haben.

Ist ein Film über persönliche Krisen auch ein Krisenprojekt gewesen?

Nie direkt. Es hat sich gezeigt, dass meine Abwesenheit von einigen auch als Liebesentzug gedeutet wurde. Prodromos hat sich gefragt, ob er als Loser auf der Leinwand verewigt wird. Stefanie hat allergisch darauf reagiert, als ich ihre Geschichte mit dem Knieunfall im Krankenhaus nachträglich visualisieren wollte, sie hatte vollkommen Recht. Das Erwachsenwerden spielte für mich eine große Rolle. Wenn ich aber die Schule, die Eltern, die Erwartungen zeigen wollte und zusätzlich, wie sie auf mich reagieren, dann hätten wir bei so vielen Metaebenen keine Chance gehabt.

Die Ruhe der Passagen mit den Selbstauskünften fällt auf.

Ich sorge dafür, dass jemand in seinem inneren Film drin ist, dann greife ich nicht mehr ein. Das ist kein Frage-Antwort-Spiel. Ich gebe jemandem den Raum, auch wenn Schweigen eintritt. Wenn ich Glück habe, ist es nicht vorformuliert, was sie sagen. Ich greife ein, wenn ich Hilflosigkeit spüre. Schauspieler springen oft sehr assoziativ.

Sie zeigen nicht nur kontrollierte Momente.

Mich interessiert, wie Menschen über sich nachdenken. Tränen im Film sind das Heikelste und Schwierigste. Karina weinte z. B. beim Filmfestival in Karlovy Vary, als ihre Eltern plötzlich von ihrem Erfolg schwärmten, dann aber sagten, dass sie sich auch Enkel wünschen. Das war ein Moment ohne Vorbereitung, ich musste ihn weglassen. Von Constanze gibt es eine Szene, wo sie sagt: „Ich weiß nicht mehr, was die von mir wollen“, da hat sei eine Träne in den Augenwinkeln. Ich möchte Tränen nicht ausstellen. Bei „Blackbox BRD“ weinen die Eltern von Wolfgang, da habe ich mir über die Hinführung zu dem Moment viele Gedanken gemacht.

Die Ernst-Busch-Schule ist kein explizites Thema in „Die Spielwütigen“. Wie sehen Sie diese Institution?

Mich interessiert nicht der Unterrichtsablauf oder Lehrfächer wie das Fechten, sondern die Kristallisationspunkte, die Einwirkung der Schule bis zum Punkt des Selbstzweifels. Anfangs gibt es die große Euphorie der Aufgenommenen, sie fühlen sich als Auserwählte. Dann kommt die große Krise. Es gehört zum System, dass die Schule diese Krise benützt.

Die Ernst-Busch-Schule würde es euphemistisch so erklären: Wir setzen an Stelle von Spontaneität Bewusstsein, dafür müssen wir kritisieren und zeigen, was falsch ist. Das Problem ist aber, dass Schauspielerei mit Handwerk und mit Leben zugleich zu tun hat, also mit der eigenen Persönlichkeit, die dieses Handwerk integriert.

Beim ersten Intendantenvorspiel am Ende habe ich sehr viel Handwerk gesehen, aber keine Persönlichkeit mehr. Ich bin irritiert und skeptisch, was die Ausbildung angeht. Der Film erzählt in der Art, wie er die Dozenten zeigt, das Ausgeliefertsein der Schüler. Wenn sich jemand von frühmorgens bis abends den Gesetzmäßigkeiten einer Eliteschule unterwerfen muss, dann stellt sich im Fall von Widersetzung die Machtfrage. Im Gefängnis geschieht das in der extremsten Form, in anderen Institutionen sicher modifiziert. Da gelten weichere Faktoren. Mit Privilegien und Sanktionen wird Kritik und Dissidenz lahm gelegt. Mein Eindruck war, dass es in der Schauspielschule viele Arten gab, Kritik zu neutralisieren. Ich kam in die Schule und hatte das Gefühl, hier ist seit zwanzig Jahren nicht gelüftet worden. Das ist DDR in allem: Dozenten, Lehrplan, Mobiliar.

Gelegentlich wirken die Erklärungsversuche der Dozenten unfreiwillig komisch.

Ja, zum Beispiel, wenn die Bühnenküsse geübt werden. Aber die Komik täuscht nicht darüber hinweg, das man hier die Funktion einer totalen Institution beobachten kann. Seit meinem früheren Gefängnisthema, über das Thema RAF bis zur Deutschen Bank und dieser Schauspielschule bin ich an totalen Institutionen interessiert, an Irritation und Demontage, weil ich der Anhäufung von Macht mit großem Misstrauen gegenüberstehe. Ich hätte mir mehr Kritik von den Schauspielschülern gewünscht. Aber das funktioniert nach dem Muster der Identifikation mit dem Aggressor, ein Überlebensreflex. Das Gefühl dominiert, ich muss Teil der Institution werden, weil ich sie sonst nicht durchhalte. Sowohl Studenten, die ich nicht ausgewählt habe, wie auch Dozenten haben subtil versucht, den Film zu boykottieren. Eine Dozentin ließ sich nicht verkabeln, so hatten wir keine O-Töne und die Drehgenehmigung war unbrauchbar. In anderen Fällen ließ man uns stundenlang warten. Es fielen Begriffe wie Reality-TV – aus der Angst heraus, dass die Institution öffentlich gezeigt wird. Ich sage ja, nicht gelüftet.

CineStar 7, heute, 14.30 Uhr; International, Montag, 17 Uhr