Gnade den Geschädigten

„Ich lege verschiedene Spielebenen übereinander, vermeide das kontinuierliche Erzählen von Geschichten und löse die Figurenhierarchie auf“: Ein Porträt der jungen Regisseurin Christiane Pohle, deren Inszenierung von Jean-Paul Sartres „Fliegen“ am Sonntag am Theater Freiburg Premiere hat

VON SABINE LEUCHT

Zürich und Freiburg – das sind die Pole des kleinen Welttheaters von Christiane Pohle. Hamburg ist ihr Heimatplanet: Hier hat Christiane Pohle Schauspiel studiert, hier hat sie im freien Theater Wurzeln geschlagen, und nach Hamburg hört sie sich auch an. Sehr nördlich und doch weich und warm. Vielleicht weil die gebürtige (Ost-)Berlinerin im Badischen groß geworden ist – zwischen sonnenverwöhnten Weinbergen und zischelndem Süddeutsch. Sie hat so etwas Wohlgeordnetes in ihrem Wesen, das nicht nur unter Kreativen überrascht. Fast möchte man vor der Vernunft in die Knie gehen, mit der sie sich den asymmetrischen Reißverschluss ihres Troyers gegen den ersten Herbstwind hochgezogen hat.

Wir trafen uns Anfang Oktober, früh am Morgen, in der Kantine der Münchner Kammerspiele, kurz vor ihrer Premiere von Jon Fosses „Da kommt noch wer“. Christiane Pohle erschien zu spät, doch weder vom Schlaf zerknittert noch aus Höflichkeit geknickt. In Fosses Stück windet sich die karge, melodische Sprache zur Schlinge, in der die viel zu viel beschworene Liebe letztendlich erstickt. Aus diesem desastreusen Pas de deux machte die Regisseurin ein fast frühlingshaft leichtes Kammerspiel, das die Bedrückung dennoch auf geradezu angenehme Weise transportierte.

Seit 1999, als der damals 31-Jährigen mit „sitzen in Hamburg“ eine hochgelobte „Drei Schwestern“-Variation gelang, bescheinigt ihr die Kritik ein Gespür für Rhythmus und Stimmungen. „sitzen“ war ein Produkt der Frauentruppe Laborlavache!, was salopp übersetzt etwa „Labor der verrückten Kühe“ heißt und in jedem Fall selbstironisch zu verstehen ist. In der von Frechheit quirligen Tschechow-Bearbeitung führt die bedrückende Nähe zwischen den „Schwestern“ zu Ausbrüchen von Albernheit und Raserei, wie sie nur im Schutz dieser Nähe überhaupt gefahrlos möglich sind. „Eine Frauensache“? Auf jeden Fall mehrheitsfähig.

Der „Impulse“-Preis für „sitzen in Hamburg“ kürte Christiane Pohle zur „Regiehoffnung“, der Züricher Intendant Christoph Marthaler bot der jungen Regisseurin eine Patenschaft an: Eine Inszenierung pro Saison an seinem Haus. Zunächst noch mit den Mädels von Laborlavache! entstanden hier im Jahr 2000 Gorkis „Sommergäste“. Wieder ging es mehr um die Menschen als um die großen Beben der russischen Revolution.

Die Frau mit dem akkurat verwuschelten schwarzen Schopf hat bereits Uraufführungen gestemmt und Peter Hoegs Roman „Plan von der Abschaffung des Dunkels“ dramatisiert, 2002 in Freiburg. Immer wieder sind es die Mikrobewegungen zwischen Hoffnung und Depression, die sie herauspräpariert. Manchmal lässt sie ihre Figuren kurz gefrieren wie Objekte unter dem Mikroskop, dann wieder zappeln sie sehr äußerlich und pflegen ihre Ticks. Besonders schön korrespondieren Innen und Außen in Gesine Danckwarts „Täglich Brot“ (Theaterhaus Jena, 2001) – einem turbulenten Sprachkonzert von Arbeitsweltgeschädigten. Die stehen in Pohles Inszenierung knöcheltief im Wasser und quatschen um ihr Leben.

Zwar liebt sie schräge Perspektiven: Wie 2002, als sie im „Clavigo“ Männer Frauen und Frauen Männer spielen ließ. Das Pohle-Theater aber ist jedes Mal anders und nie manieriert. Die Frau mit den ernsten Augen, die in der Erinnerung immer blau sind, ist gar nicht traurig, wenn ihr ein Text „sagt, was er braucht“. Das inszeniert sie dann am liebsten „flächig“: „Ich lege verschiedene Spielebenen übereinander, vermeide das kontinuierliche Erzählen von Geschichten und löse die Figurenhierarchie auf.“ Ob eine Figur viel oder wenig Text hat, bestimmt so nicht das Gewicht ihrer Rolle. An den Stadttheatern, auch den innovativeren, stört sie, dass „immer noch viel zu viel über den Text geschieht“ und deshalb besteht sie auf mindestens einer freien Produktion pro Jahr.

Mehr als drei Inszenierungen pro Saison nimmt Christiane Pohle nicht an. Wenn am Sonntag die Premiere von Sartres „Die Fliegen“ in Freiburg über die Bühne gegangen ist, dann macht sie erst mal ein halbes Jahr Pause. Denn schließlich gibt es ja noch die Musik. Als Sängerin von „Ganz schöne Geräuschkulisse“ mischt Pohle Chanson mit Rap und Roma-Folklore. Als Regisseurin bringt sie Worte zum Klingen und choreografiert Bilder, die in die Seele fallen und/oder die Lachmuskeln strapazieren. In der Grazer Uraufführung von Gert Jonkes „Chorphantasie“ kam beides zum Einsatz. Ein Dirigent auf der Suche nach der „Seele der Symphonie“ – das ist ganz klar eine Geschichte nach ihrem Geschmack.

Doch es gibt nicht nur Erfolge. „Täglich Brot“ hatte Pohle erst sensationelle zehn Tage vor der Premiere übernommen – „und dann daraus meins gemacht“. Bei der Uraufführung von Abi Morgans „Splendour“ an der Berliner Schaubühne gelang das nicht. „Ich habe zu lange zu viele Kompromisse gemacht“, sagt sie heute und regt sich nur leise auf. Sie ist wohl ein hoffnungsvoller Mensch – und eine Regisseurin, die die Sehnsüchte ihrer lädierten Figuren nie geradewegs ins Leere laufen lässt. Wenn es ganz hart kommt, ist sie ihnen gnädig.