Im Zweifel für den Raser

Mit 476 PS vor Gericht: Heute beginnt der Prozess gegen einen Testfahrer, der im Juli letzten Jahres einen tödlichen Unfall verursacht haben soll. Doch die Beweislage gegen den Angeklagten ist dünn

Rasen auf Autobahnen ist über Nacht zum Schwerverbrechen geworden

VON PHILIPP MAUSSHARDT

Die A5 zwischen Karlsruhe-Durlach und der Anschlussstelle Bruchsal gilt als Rasers Paradise: Kein Tempolimit, dreispurig ausgebaut und wenig Kurven. Rolf F.s Mercedes CL 600 hatte 476 PS unter der Haube und der Testfahrer hatte es eilig. An jenem 14. Juli war er laut Tankbeleg im DaimlerChrysler-Werk Esslingen bei Stuttgart kurz nach 5.20 Uhr losgefahren zur etwa 600 Kilometer entfernten Teststrecke nach Papenburg (Niedersachsen). Der Ingenieur sollte dort die Fahrwerkstechnik des Luxusliners überprüfen.

Kurz vor dem Parkplatz „Höfenschlag“ auf der A5 soll dann passiert sein, was ein Zeuge so beschreibt: Der Mercedes sei mit mindestens 230 Stundenkilometern auf der linken Überholspur dahergeschossen. Ein Kia-Kleinwagen, besetzt mit Mutter und Kind, habe die Spur blockiert. Die Fahrerin sei offenbar erschrocken. Ihr Wagen geriet ins Schleudern und raste ungebremst in ein Waldstück. Jasmin (21) und ihre zweijährige Tochter Rebecca waren sofort tot.

An jenem 14. Juli liefen halbstündlich die Fahndungsaufrufe der Polizei im Radio: Gesucht wurde ein dunkler Mercedes mit einer auffälligen Auspuffanlage. Über 600 Meldungen gingen bei der zuletzt auf 42 Beamte aufgestockten „Sonderkommission Raser“ ein – Rasen auf deutschen Autobahnen, bis dahin Alltag in Autoland, war über Nacht zum Schwerverbrechen geworden.

Mit hohem kriminalistischem Aufwand ermittelten die Fahnder schließlich den 34-jährigen Rolf F. als Tatverdächtigen. Tankbelege, Handy-Protokolle und schließlich das Erinnerungsvermögen eines Zeugen, der – von Polizeipsychologen in einen Trancezustand versetzt – sich an Teile des Nummernschilds erinnerte, machten aus dem bis dahin unauffälligen Rolf F. den „Todesdrängler“ (Bild). So also sehen deutsche Rambos aus: Rolf F. wohnt bis heute bei Vater und Mutter im Einfamilienhaus in Münsingen auf der Schwäbischen Alb. Hat acht Jahre bei der Bundeswehr gedient und sich danach mit Realschulabschluss und Abendkursen zum Ingenieur „beim Daimler“ hochgeschafft. Der Mann war etwas in Münsingen und Umgebung, und seine ehemaligen Fußballfreunde – Rolf F. stand beim SV Bremelau im Tor – sagen heute noch: „Reschpekt.“

Gut, mit seinem goldfarbenen Mercedes-Sportwagen SLK hat er den schwäbischen Common Sense verlassen, wonach man nie zeigt, was man hat. Aber den auffälligen Wagen, so sagt er zu seiner Verteidigung heute, habe er doch nur gekauft, weil er ihn der schlecht verkäuflichen Farbe wegen so billig bei seinem Arbeitgeber bekommen habe.

Rolf F. bleibt bis heute dabei, dass er nicht jener „Todesdrängler“ war, für den der Staatsanwalt ihn hält. Jedenfalls könne er sich auf jener Fahrt nach Papenburg an kein Ereignis erinnern, das irgendwelche schlimmen Folgen gehabt hätte. Und an einen blauen Kia schon gar nicht. Sein Anwalt Ulrich Schweizer wird denn heute auch ein Gutachten vorlegen, nach dem der Hauptzeuge des Unfalls aus der Entfernung von 150 Metern gar nicht habe sehen können, wie dicht nun der Mercedes auf die Vorderfrau aufgefahren sei.

Angeklagt ist Rolf F. der fahrlässigen Tötung, der gefährlichen Straßenverkehrsgefährdung und der Fahrerflucht. Dafür kann er vom Schöffengericht in Karlsruhe zu maximal vier Jahren Haft verurteilt werden. Doch dazu muss Amtsrichterin Brigitte Hecking nach den fünf vorgesehenen Verhandlungstagen zweifelsfrei zum Schluss gekommen sein, dass mit Rolf F. der richtige Angeklagte im Gerichtssaal sitzt. Im Zweifel für den Raser.

DaimlerChrysler ist die Angelegenheit eher unangenehm. Der Autobauer beeilte sich mitzuteilen, dass alle Testfahrer angehalten sind, sich an die Straßenverkehrsordnung zu halten. Deutsche Autobahnen würden nicht zu Versuchszwecken missbraucht. Im Übrigen gelte die Unschuldsvermutung: Rolf F. arbeite trotz der Ermittlungen weiter in seiner Abteilung.

An jener Stelle, an der Jasmin und Rebecca tödlich verunglückten, brennen auch heute noch rote Friedhofslichter vor zwei aufgestellten Holzkreuzen. Irgendjemand zündet sie immer wieder an, wenn Regen oder der Fahrtwind der vorbeirasenden Autos sie auslöschen. Walter M., Vater des Kindes und Lebensgefährte der getöteten Jasmin, sagt, der Unfall habe auch sein Leben zerstört. Er ist arbeitslos und krankgeschrieben. Jasmin hatte ihn am 14. Juli zu seinem Arbeitsplatz gefahren und war schon wieder auf dem Rückweg, als der Unfall geschah. Als Nebenkläger wird er nun im Gerichtssaal sitzen und hoffen, dass sie mit Rolf F. den Richtigen erwischt haben. Denn nur ein Urteil gibt ihm die Möglichkeit, Schadenersatz zu fordern.

Noch während die Fahndung im vergangenen Jahr auf Hochtouren lief, meldete die Spielefirma Davilex einen sensationellen Verkaufserfolg: Ihr Computerspiel „Autobahnraser“ war der Schlager des Jahres. In der Produktbeschreibung steht: „Werden sie zum virtuellen Autobahnraser – ohne Rücksicht auf die Verkehrsregeln. Überraschen Sie die Gegner mit Ihrer genialen Fahrtechnik.“ Fast wie im richtigen Leben.