Unterm Existenzminimum

Zwei Filme widmen sich der Obdachlosigkeit und der Stadt: „Trollywood“ (Panorama) von Madeleine Farley und „El tren blanco“ (Forum) von einem argentinischen Filmemacherkollektiv

VON HARALD FRICKE

Im Film ist Stadt vollendete Architektur. Panoramablicke, perspektivisch fliehende Hochhausschluchten und schnelle Close-ups in Shoppingzentren. Einzig das soziale Leben bringt in diese wohlstrukturierte Oberfläche der Metropolen noch Differenzen. Der Luxus mag sich überall angleichen, erst im Umgang mit gesellschaftlichen Missständen zeigt sich so etwas wie Individualität angesichts der weltweiten Verstädterung. Längst hat die Soziologie entdeckt, dass man den Ausschluss von MigrantInnen in den Pariser Banlieues nicht mit der über Jahrzehnte gewachsenen Ghettoisierung in den USA auf eine Stufe stellen kann.

Umso erstaunlicher ist es, dass selbst in Dokumentarfilmen scheinbar alle Menschen Brüder sind, sobald sie unter die Grenze des Existenzminimums fallen. Sonst wäre das geschlossene Bild, das Madeleine Farley mit „Trollywood“ von Obdachlosigkeit in Los Angeles entwirft, kaum zustande gekommen. Ein gedämpfter Beat gleitet über digital verfremdete Skylines, langsam groovt sich die Kamera an Menschen heran, die in Einkaufswagen, Schlafsäcken oder Kartons auf der Straße leben. Manche wollen ihrem Drang nach Freiheit folgen; bei einigen reicht die staatliche Unterstützung nicht aus; doch die meisten werden gar nicht weiter gefragt auf der Suche nach einem passenden Human Touch zu den elektronisch flimmernden Soundscapes.

Viel recherchieren musste Farley nicht. Die eingeblendeten Infotafeln kann man im Netz runterladen: An die 250.000 Menschen ohne festen Wohnsitz leben in L.A., die Hälfte hat psychische Probleme oder ist auf Drogen. Wozu da noch bei den Gesundheitsbehörden nach Möglichkeiten der Behandlung fragen – wenn man für ein paar Dollar ebenso gut einen authentischen Crackraucher bekommen kann, der lässig seine Sexfantasien runterrappt, während das Zeug anfängt zu wirken. Zur Not steht an der nächsten Ecke jemand anders mit seiner Geschichte bereit: das aufgedunsene Model im zerfledderten Lackleder, das sich wegen seiner gescheiterten Karriere als Leinwand-Beauty kaputt säuft; und schließlich noch der Good Guy, der für die Rechte der Homeless People kämpft und von einem mobilen Camp aus den Widerstand gegen die kalifornische Sparpolitik organisiert.

Sie alle haben nur einen gemeinsamen Nenner: den Einkaufswagen, mit dem sie Dosen und Altpapier sammeln. In England sagt man dazu Trolley, so ergibt sich das Wortspiel im Filmtitel. Ähnlich simpel ist das inhaltliche Konzept von Farley. Neugierig hockt sich die britische Filmemacherin an den Straßenrand, lässt Anekdoten erzählen, findet alles sehr interessant und trollt sich dann auch wieder. Einmal will sie ganz besonders frech die Scheinheiligkeit eines Charity-Dinners entlarven. Doch der mitgebrachte schwarze Obdachlose sorgt mit seinem Einkaufswagen nicht für den erwünschten Skandal vor der Kamera – auch im Umgang mit Elend hat Hollywood einige Routine.

Dieser Hang zum misery chic fehlt „El tren blanco“ in jeder Einstellung. Das liegt schon an der Herangehensweise der Filmemacher Nahuel García, Sheila Pérez Gímenez und Ramiro García, die über Monate mit den Protagonisten diskutiert haben, bevor in Buenos Aires gedreht wurde. Außerdem ist die Idee zur Dokumentation über den Alltag von Cartoneros, die ihren Lebensunterhalt mit dem Sammeln von Zeitungen und Sperrmüll verdienen, in einem Augenblick entstanden, da in Argentinien die Ausnahme nicht mehr von der Regel zu trennen war. Am 20. Dezember 2001 musste Präsident De la Rúa abtreten, das Land geriet in ein wirtschaftliches Chaos, 45 Prozent der Bevölkerung waren ohne Job.

Der Konflikt findet sich in Bildern von Demonstrationen, Plünderungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei wieder, die „El tren blanco“ einen von der Realität grundierten Rhythmus geben. Der Rest ist Arbeit unter informellen Bedingungen: Ein Kilo bringt beim Recycling 15 Centavos, etwa 4,5 US-Cent; 50 Kilo müssen zwischen 18 und 23.30 Uhr gesammelt werden, dann bringt der weiße Zug die Cartoneros in die Armenviertel zurück. Was sie in dieser Zeit erzählen, fügt sich zu einem ohne Anmaßung vorgetragenen Kommentar sozialer Not, auch wenn hier und da Händel oder Beethoven den schüchternen Äußerungen zu revolutionärem Pathos verhelfen.

Gleichzeitig erfährt man, wie selbstverständlich Armut bereits in den Alltag integriert ist und zu neuer Solidarität innerhalb der Familien geführt hat. Mut macht diese Einsicht nicht unbedingt, sie verdeutlicht jedoch, wo die Kritik in Buenos Aires ansetzt: Der einzelne Mensch ist das Subjekt, ohne seinen Willen zur Gemeinschaft gibt es auch in Zukunft keine Stadt.

„Trollywood“: heute, 17 Uhr, CineStar 7; morgen, 18.30 Uhr, CineStar 2; Freitag, 14.30 Uhr, CineStar 7 „El tren blanco“: heute, 15 Uhr, Arsenal; morgen, 20 Uhr, Babylon