„Der Westen schweigt zu Tschetschenien und fördert so den Terror“, sagt Achmed Sakajew

Joschka Fischer reist heute nach Moskau – über Menschenrechtsverletzungen wird Fischer mit Putin nicht reden

taz: Herr Sakajew, heute reist Joschka Fischer nach Moskau. Was sollte Fischer Putin zum Krieg in Tschetschenien sagen?

Achmed Sakajew: Putin hat nach dem Anschlag in Moskau in der letzten Woche Tschetscheniens Präsidenten Aslan Maschadow dafür verantwortlich gemacht und alle Verhandlungen abgelehnt. Fischer sollte Putin davon überzeugen, dass nur Verhandlungen helfen, dass seine Politik falsch ist und dass sie den Interessen Russlands und Deutschlands widerspricht. Doch das wird Fischer nicht tun.

Warum nicht?

Weil Fischer wie fast alle westliche Politiker seine Kritik am Krieg in Tschetschenien dem Pragmatismus geopfert hat. Dem Westen sind gute, ungestörte Beziehungen zu Putin wichtiger als Tschetschenien. Das ist nicht nur doppelmoralisch – es stärkt auch jene, die den bewaffneten Kampf um jeden Preis fortsetzen wollen. Und der Westen verkennt so das Wesentliche. Putin ist, was oft vergessen wird, ein KGB-Mann. Der Westen hält Putin für einen Freund, der für Reformen und für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus steht. Doch das ist eine Farce.

Inwiefern?

Sehen Sie sich an, was heute in Russland passiert. Putin steht für die vollständige Zerstörung der freien Presse und die Verfolgung politischer Gegner. Und das wird weitergehen. Wer glaubt, dass Russland und das KGB-System, das Putin an die Macht gebracht hat, dabei stehen bleiben, irrt sich. Russland geht steten Schritts auf den Faschismus zu.

Faschismus? Sie übertreiben. Putin ist doch mit Wahlen und nicht mit einem Putsch an die Macht gekommen.

Trotzdem. Bei der letzten Duma-Wahl haben die nationalistisch-faschistischen Kräfte massiv gewonnen. Zwei Parolen bestimmen derzeit den politischen Diskurs: „Die Zerstörung der Schwarzen“, womit die Menschen kaukasischer Nationalität gemeint sind, und „Kampf den jüdischen Unternehmern“, wie Chodorkowski oder Beressowski. Und Putin ist dabei, sogar Europa seine politischen Bedingungen zu diktieren. Das zeigt die Tatsache, dass der Rechtsextremist Wladimir Schirinowski die russische Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats führt. Wenn die EU dieses Zeichen ignoriert, ist dies eine politische Bankrotterklärung.

Wie kann der Westen denn Einfluss nehmen? Mit Protesterklärungen ist ja auch nicht viel gewonnen.

Doch. Russland ist stark von Europa abhängig, deshalb gibt es durchaus Einflussmöglichkeiten. Dazu gehört klare Kritik der Politik Putins. Russland ist Mitglied mehrerer internationaler Organisationen und damit konkrete Verpflichtungen eingegangen. Russland muss angehalten werden, diese Verpflichtungen auch einzuhalten. Doch der Westen schaut einfach weg, obwohl Russland in Tschetschenien diese Verträge täglich verletzt und bricht. Es ist kein Wunder, dass die russische Regierung die Ignoranz des Westens als Blankoscheck versteht, um noch aggressiver aufzutreten.

Herr Sakajew, der Konflikt in Tschetschenien hat aber zwei Seiten: Es gibt die russische Aggression – und die Terroranschläge von Tschetschenen auf russische Zivilisten. Sie sind der Vizepremier in der Exilregierung von Aslan Maschadow. Was tun Sie, um der Radikalisierung innerhalb der tschetschenischen Gesellschaft entgegenzuwirken?

Nun, es gibt eine Radikalisierung – und zwar sowohl in der tschetschenischen als auch in der russischen Gesellschaft. Nach jeder Säuberung, die die russische Armee in Tschetschenien durchführt, entstehen neue kleine Gruppierungen, die niemand unter Kontrolle hat. Diese jungen Menschen haben bisher nur Erniedrigung und Gewalt erlebt. Sie sind verzweifelt. Und sie sehen, dass Putin von westlichen Staatschefs auf internationalen Foren auch noch unterstützt wird. Diese Gruppen sind für uns, die Exilregierung, und für alle, die an einer Lösung des Konflikts interessiert sind, extrem schädlich. Denn jeder Terrorakt erhöht den Zuspruch im Westen für Putins Politik.

Stehen Maschadow und Sie angesichts der eskalierenden Gewalt auf verlorenem Posten?

Politischen Einfluss kann nur nehmen, wer Subjekt des politischen Prozesses ist. Maschadow und ich sind derzeit vollständig vom politischen Prozess abgekoppelt. Wir können nur unsere Position vertreten und ganz klar sagen: Wir sind bereit, dem bewaffneten Kampf eine Absage zu erteilen. Wir sagen, dass wir Terroraktionen gegen die russische Zivilbevölkerung kategorisch ablehnen. Wir sind bereit, uns an den Verhandlungstisch zu setzen und alle strittigen Fragen mit friedlichen Methoden zu lösen. Doch Russland ist eben kein Staat, mit dessen Barmherzigkeit wir rechnen können. Drei-, viermal wurde eine Amnestie ausgesprochen. Doch alle, die damals Putins Versprechen und der russischen Justiz vertraut haben, sind heute verschwunden oder tot. Deshalb sagen wir auch: Wir werden nicht kapitulieren. Niemals.

INTERVIEW: BARBARA OERTEL