Unheil, das nicht vom Himmel fiel

Der Amoklauf von Erfurt und seine Vorgeschichte: Die Germanistikprofessorin Ines Geipel hat mit ihrem Buch „Für heute reicht’s“ für viel Aufregung nicht nur in Erfurt gesorgt. Doch vervollständigt sie damit bislang unzureichende Recherchen und wirft neue, berechtigte Fragen zu den Vorkommnissen auf

Rechtsanwalt Langer: „Mir liegen Aussagen vor, dass es diesen Warnanruf gegeben hat“

VON HENNING KOBER

„Unheil, das vom Himmel gefallen ist.“ Dieser Satz ist einer der ersten des damaligen thüringischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel, als er am 26. April 2002 vom Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium hört. Doch manches Unheil stürzt nicht aus dem Himmel. Die Tat des Robert Steinhäuser hatte eine Vorgeschichte und Gründe.

Lange schien es, als seien die wichtigsten Fakten eindeutig. Seit drei Wochen aber ist ein Buch auf dem Markt, das noch eine Menge neuer Fragen aufwirft. Es stammt von Ines Geipel und heißt „Für heute reicht’s“ (erschienen bei Rowohlt Berlin). Dies waren die letzten Worte des Serienmörders Steinhäuser, bevor er sein Leben selbst beendete. Heftig diskutiert wurde das Buch vor allem in Erfurt selbst. Bernhard Vogel, der im Buch wegen mangelnden Aufklärungswillens heftig kritisiert wird, konstatiert „eine einseitige Sichtweise“ und schmäht die Autorin als „inkompetent und unprofessionell“. Bei einer Lesung verlassen über hundert Schüler des Gutenberg-Gymnasiums demonstrativ den Raum. Ihnen missfällt Geipels Beschreibung des Schulalltags, die das Bild der Vorzeigeschule zerstört, weil es zum Beispiel von verbreitetem Drogenkonsum berichtet. „Sie brechen uns das Rückgrat“, sagt eine Schülerin. Andere beschweren sich, dass mit ihnen nicht gesprochen wurde. Fast alle überregionalen Zeitungen berichten groß von der missglückten Lesung in der Erfurter Kaufmannskirche. Die Sympathien sind schnell auf Seiten der Schüler.

Ein Hauptkritikpunkt am Buch ist, dass es ein „literarisches Sachbuch“ ist: Geipel transportiert mit Hilfe einer fiktiven Hauptfigur ihre Recherchen. Ein Jahr lang hat Geipel mit Beteiligten gesprochen und auch Ermittlungsakten eingesehen. Viele möchten ihren vollen Namen nicht im Buch lesen, ihre Aussagen bleiben deshalb oft anonym. Der Vorwurf der Lüge steht im Raum. Doch nach der erfolgten ersten Aufregung zeigt sich, dass eine von vielen Seiten erwogene einstweilige Verfügung gegen das Buch nicht durchsetzbar ist. Offenbar lassen sich keine Fehler im Buch nachweisen. (Einzig der Focus fand einen Zahlendreher bei einer Zeitangabe.) Als Reaktion auf das Buch setzte die thüringische Landesregierung Mitte Januar eine Kommission ein, die alle Akten zum Fall erneut prüfen soll. Der Erfurter Rechtsanwalt Eric Langer, der die Angehörigen mehrerer Opfer vertritt, stellt sich an die Seite von Ines Geipel. Lange, der bei dem Attentat seine Freundin, die Kunstlehrerin Birgit Dettke, verlor, kennt die Ermittlungsakten genau. Über Geipel, der vorgeworfen wird, ungenau recherchiert zu haben, sagt er: „Ich finde ihr Buch gut.“ „Für heute reicht’s“ ist kein reines Sachbuch, und vielleicht gelingt es der Autorin deshalb, der Wahrheit nahe zu kommen.

Die 43-jährige Ines Geipel ist ein Kind der DDR. Groß geworden in Jena, landet sie im Leistungssportprogramm, wird dann Mitglied der Leichtathletik-Nationalmannschaft und später unwissentlich gedopt. Noch 1989 flüchtet sie in die Bundesrepublik. 1996 bekommt sie für ihr Buch „Verlorene Spiele – Journal eines Dopingprozesses“ viel Anerkennung. Außerdem lehrt die Germanistikprofessorin an der Ernst-Busch-Schauspielschule in Berlin. Einige ihrer Studentinnen waren Schülerinnen am Gutenberg-Gymnasium und halfen der Autorin bei der Realisation des Buches.

Am Abend des Attentats schickt Geipel die fiktive 20-jährige Elsa, Schauspielschülerin in Berlin, zurück in ihre Heimatstadt Erfurt, wo sie zwei Jahre zuvor selbst am Gutenberg-Gymnasium Abitur machte. Elsa beschreibt ihre alte Schule als „dunklen Koloss am Berg“, über dessen Flure eine „mächtige Stille“ kriecht. Ein Bildungsdampfer unter der anspruchsvoll-strengen Leitung der Direktorin Christiane Alt. Für die Lehrer gibt es kein Lehrerzimmer, das Kommunikation ermöglicht. Hausaufgaben werden häufig mit Noten bewertet. „Nur Hierarchie und Routine“ kennzeichnen den Schulalltag. Dazu kommt die Besonderheit des – inzwischen geänderten – Thüringer Schulsystems. Wer wie Robert Steinhäuser das Abitur nicht schaffte, stand ohne jeglichen Abschluss da. 14 Prozent aller Schüler in Thüringen ging es so. Kurz nach dem Amoklauf gab es in Erfurt deshalb große Schülerdemonstrationen, die überregional nur wenig Beachtung fanden.

Geipel gelingt es nun mit Hilfe ihrer Elsa, die Stimmung unter den enttäuschten Jugendlichen, die sich im linken Treff „Predigerkeller“ treffen, genau zu beschreiben. „Bloß jetzt nicht allein sein, vor allem nicht bei den Eltern sein müssen.“ Dort ist es spießig, den Eltern fehlen seit dem Ende der DDR Sprache und Identität. In Robert Steinhäusers Elternhaus ist das nicht anders. Die Fassade frisch renoviert, Antikmöbel im Wohnzimmer, Otto-Katalog auf dem Tisch, überall Trockensträuße, weiße Platzdeckchen. Nur ist Robert Steinhäuser nicht der Einzelgänger, als der er bisher geschildert wurde. „Sein Umfeld ist erstaunlich schlecht recherchiert“, sagt Ines Geipel. Er hatte sogar eine Freundin, die sich bisher nicht öffentlich geäußert hat und kurz nach dem Amoklauf mit ihren Eltern nach Süddeutschland zog.

Auch vom Drogenkonsum Steinhäusers war bisher nichts bekannt. Geipel zitiert einen Freund, der anonym bleiben will: „Grass hat uns nicht so interessiert, das kannten wir ja. Aber der ganze Chemiekram, Ecstasy oder Tilidin – es hat richtig Spaß gemacht, das auszuprobieren.“ Tilidin ist ein starkes Schmerzmittel, das Heroinabhängige gegen Entzugsschmerzen einnehmen. Noch am Vorabend des Amoklaufs schaut Steinhäuser mit einem Freund die Simpsons, trinkt Bier mit ihm im Luisenpark. Er verabschiedet sich mit „Tschüs, bis morgen“. Am nächsten Tag tötet er sechzehn Menschen und sich selbst.

Dabei hätte es unter Umständen gar nicht so weit kommen müssen. Es sind schwere Vorwürfe, die Geipel gegen Schulleiterin Christiane Alt erhebt. Der Schulverweis gegen Steinhäuser sei „juristisch vollkommen unstatthaft verhängt“ worden. Das Schulgesetz sieht die Einberufung einer Lehrerkonferenz vor. Die fand nie statt. Direktorin Alt verabschiedete ihren Schüler mit den im Protokoll vermerkten nüchternen Worten: „Die Schulzeit ist für Robert Steinhäuser laut Schulordnung Paragraf 52, Absatz 3, an dieser Schule zu Ende gegangen.“ Für Geipel eine Schlüsselszene. Am selben Abend, am 4. Oktober 2001, hebt Steinhäuser am Bankautomaten Geld für den Waffenkauf ab.

Doch auch später soll es noch einmal eine Möglichkeit zur Abwendung des Schrecklichen gegeben haben. Am 24. April 2002, zwei Tage vor dem Amoklauf, erhält die Sekretärin Anneliese Schwertner einen Anruf. „Erregt habe die Stimme darauf hingewiesen, dass Robert Steinhäuser in Kürze Schreckliches an der Schule plane“, schreibt Geipel. Dass es einen Telefonanruf gab, in dem eine „Mutti oder Oma etwas Schlimmes“ ankündigte, erzählt auch der Hausmeister, der angibt, neben der Sekretärin gestanden zu haben, dem Focus. Den Namen Steinhäuser hat er nicht gehört. Auch Eric Langer bestätigt der taz: „Mir liegen Aussagen vor, dass es diesen Warnanruf gegeben hat.“

Wer wie Robert Steinhäuser das Abitur nicht schaffte, stand ohne jeden Abschluss da

In ihrer ersten Zeugenaussagen sagt Steinhäusers Mutter, sie habe am 19. April, eine Woche vor der Tat, im Zimmer ihres Sohnes „eine Reisetasche voll Munition“ entdeckt. Später korrigiert sie ihre Aussage mit einem handschriftlichen Vermerk: „Dass es Munition war, habe ich erst heute [gemeint ist der 26. April] gesehen.“ Stimmt es also nicht, wie bisher angenommen, dass die Eltern von Robert Steinhäuser völlig ahnungslos waren? War die Schule doch gewarnt worden und hat nichts unternommen? Ein schrecklicher Verdacht. Christiane Alt bestreitet: „Es hat diesen Anruf nicht gegeben. Das Buch basiert hier auf dichterischer Freiheit. In den Akten werden Sie keinen entsprechenden Vermerk finden.“ Ähnliches sagt sie auch über den illegalen Schulverweis. „Der Vorwurf basiert auf unzureichender Aktenrecherche von Frau Geipel.“

Christiane Alt hat viel durchgemacht in den letzten zwei Jahren, das Gutenberg-Gymnasium war ihr Kind und ist es immer noch. Am Telefon drückt sie sich vorsichtig und förmlich aus. Die Frage nach der Schuld sieht sie so: „Der Schuldige ist doch allein der Täter, der schießt.“

Eine Antwort, die vielen Angehörigen nicht ausreicht. Ende Februar möchte Rechtsanwalt Lange Strafanzeige gegen die Verantwortlichen des Polizeieinsatzes stellen. Bisher steht für die Opfer als Todeszeit in den Sterbeurkunden 10.58 Uhr bis 11.29 Uhr. Dies ist nachweislich falsch. Noch um 12.30 Uhr war der Lehrer Hans Lippe bei Bewusstsein. Seine Schreie hallen lange Zeit durch das Schulhaus. Knapp 200 Personen befinden sich hier bis 15.30 Uhr. Auch die zwei getöteten SchülerInnen Susann Hartung und Ronny Möckel leben noch zwei Stunden nach den Schüssen auf sie. Hätten sie gerettet werden können? Die Polizei war überfordert, rangelte um Kompetenzen, so Geipel. Der Einsatzleiter und Direktor der Erfurter Polizei, Rainer Grube, entschied sich gegen die Strategie des „schnellen Notzugriffs“. Viele SEK-Mitglieder beklagen später fehlende Koordination. Geipel zitiert eines: „Die Einsatzleitung hat definitiv gegen die Lage entschieden. Die Versorgung von Verletzten musste absoluten Vorrang haben. Der ganze Einsatz war die größte Scheiße.“

Obwohl die Rettungsärztin Gabriele Wirsing seit über einer Stunde im Gebäude ist, darf sie sich erst um 12.30 Uhr um den verletzten Lehrer Lippe kümmern. Zuvor hatte ihr die Einsatzleitung die strikte Anweisung gegeben, das Sekretariat nicht zu verlassen. Kurze Zeit später stirbt Lippe. Den Hinterbliebenen der Opfer geht es nicht ums Geld, wie Lange in einem Interview mit dem Stern erklärte. „Wir wollen einfach nur wissen, was da passiert ist.“ Die Thüringer Landesregierung war dabei bisher keine große Hilfe. Im Gegenteil. Am 17. Mai 2002 notiert die Polizeidirektion in einer Aktennotiz die Anweisung aus Staatskanzlei und Innenministerium: „Ab sofort sind durch die Beamten keine Gespräche mit Hinterbliebenen von Opfern zu den Umständen des Ablebens ihrer Verwandten zu führen.“