Guten Morgen, Peking

Der chinesische Film setzt neue Schwerpunkte: Während einige Regisseure noch immer bevorzugt Themen wie Migration und Prostitution verhandeln, werden andere immer fiktionaler und poetischer

VON SUSANNE MESSMER

Xu Daqin hat immer nur gearbeitet, vierzig Jahre lang in ein und derselben Fabrik, in einer kalten Industriestadt im Norden Chinas. Gerade ist Xu Daqin Rentner geworden, kann aber mit der gewonnenen Freiheit wenig anfangen. Ein bisschen joggen, fernsehen, mit der Familie streiten. Also beschließt er eines Tages, nach Yunnan zu reisen, endlich die Gegend im äußersten Südwesten Chinas kennen zu lernen, in die es ihn einmal fast verschlagen hätte. Er reist in die Landschaft seiner Träume.

Mit der Geschichte eines alten Mannes wagt sich der 1967 geborene Regisseur Zhu Wen, wie er sagt, auf unbekanntes Terrain. Bislang hat er, der in China als Romancier bekannt wurde, vor allem über die eigene Generation berichtet – so auch mit seinem ersten Film „Seafood“, der vor zwei Jahren auf der Berlinale zu sehen war. Doch in seinem neuen Film, der jetzt im Forum zu bewundern war, geht es ihm um eine Generation, die „in einer unnormalen Zeit gelebt und dabei eine surreale Genügsamkeit bewiesen hat“, wie er erklärt.

Sein Film war der schönste der vier Filme aus China, die man in diesem Jahr auf der Berlinale sehen konnte: Selten sah man hier Kinobesucher, die sich nach einem Film so herzlich bei einem Regisseur bedanken. Und es war ja auch zum Dahinschmelzen, wie der Darsteller des alten Mannes Li Xuejian mit demütiger Haltung und viel Beharrungsvermögen in den Augen den einfachen Mann gibt.

Im Vergleich zu den jungen, verunsicherten Großstadtexistenzen, wie man sie in den Filmen junger Filmemacher aus China erwartet, wirkt der alte Mann aus „South Of The Clouds“ wie ein interessantes Fossil. Auch, dass der Film mit in einer wunderschönen Bildästhetik daherkommt und dass er in China gezeigt werden darf, macht ihn nicht zu einem Film, wie man ihn von der so genannten sechsten Generation chinesischer Filmemacher, von nach 1960 geborenen Regisseuren also, erwarten würde.

Der neue chinesische Film bewegt sich allmählich aus dem Untergrund heraus. Keine pure Sozialkritik mehr, unter der die Individuen manchmal genauso begraben werden wie unter dem, das kritisiert wird. Und auch die die groben digitalen Bilder weichen allmählich einer teuren Technik, die verdaulicher ist. Das zeigte auch Zhu Whens stiller Film im Forum, das demonstrierte auch der Forumsbeitrag „Baober in Love“, ein Film der 1955 geborenen Regisseurin Li Shaolong, der nicht weniger zu erzählen hat, aber manchmal dazu neigt, die Geschichte unter Spezialeffekten zu verschütten.

Erzählt wird das tragische Märchen einer jungen Außenseiterin in Peking, die sich in einem erfolgreichen Geschäftsmann verliebt. Der Film beginnt mit einem fantastischen Bildersturm, in dem die Geschichte Baobers zusammenschnurrt: wie Mitschüler sie quälten, wie ihr das alte Dach überm Kopf weggerissen wurde, damit neue Wolkenkratzer entstehen können – alles in drei Sekunden. Doch auch, wenn es die stilisierten Bilder nahe legen: Baober ist mehr als nur eine asiatische Variation der „Amélie“; sie hat Grund, sich ortlos zu fühlen in einer Stadt, die sich zurzeit verändert wie kaum eine andere. Erstaunlich, dass auch dieser Film durch die Zensur kam.

Aber es gab auf der diesjährigen Berlinale auch Filme, wie man sie gewohnt ist von der „sechsten Generation“. Wang Quanang erzählt mit seinem zweiten Film „Jingzhe“ die Geschichte einer jungen Bauerntochter, die vor der Zwangsheirat in die Stadt flüchtet. Dort findet das Mädchen keinen Anschluss und kehrt bald in ihr Dorf zurück. Neben der Darstellung großer sozialer Unterschiede, von Alkoholismus und Kriminalität ist der tiefe Abgrund zwischen Stadt und Land in China eines der größten Themen junger chinesischer Filmemacher. Das Besondere an diesem Film ist die bisher nicht gekannte Härte: Weder wird dem Zuschauer erspart, wie sich die Physiognomie der jungen Frau durch die harte Landarbeit verändert, noch kommt man darum herum, mit anzusehen, wie sie von ihrem Ehemann vergewaltigt wird.

Der vierte chinesische Film auf der Berlinale, Pan Jian Lins Debüt „Good Morning Beijing“, behandelt mit Prostitution und Kriminalität zwei gängige Themen aus dem Arsenal des jungen chinesischen Films, das anstrengend sein mag, aber allemal aufregender als die kitschigen Historiendramen der älteren Kollegen, die im Westen noch immer zu Exotisierungen übelster Sorte einladen. Während die Entführungsgeschichte aus „Good Morning Beijing“, eher schnell und dokumentarisch erzählt ist, wirkt die Geschichte um die zwei Prostituierten wie ein ästhetisch inszeniertes Kammerspiel aus erschütternder Agonie und Sprachlosigkeit.

Im Gespräch erklärt Pan Jian Lin, dass er wie sein Kollege Wang Quanang keine Drehgenehmigung hatte, dass er sich das Geld für diesen Film zusammengeliehen hat und dass er sich bei beiden Geschichten auf reale Vorkommnisse bezieht. Die Prostituierte sei in Wirklichkeit nicht nur vergewaltigt worden, sondern ein Freier habe ihr die Vagina zerbissen. Sein Film berührt, weil er diese Brutalität nicht direkt zeigt, weil er selten den Akt der Gewalt selbst zeigt, sondern eher die Gesichter derer, die diese Gewalt beobachten. Das macht den Film erträglich und weckt nur manchmal Sehnsucht nach mehr Fiktion – nach einer Poesie, wie sie erst langsam Einzug hält ins chinesische Kino.

„Good Morning Beijing“, Sa., 12.30 h, Arsenal; So., 15.30 h, Cinemaxx 3