Aufs Zimmer gehen

Der Philosoph Michel Foucault hat einmal gesagt: „Die Einzigen, die wirklich etwas über die männliche Sexualität wissen, sind die Prostituierten.“ Einblicke in ein bisweilen etwas befremdlich anmutendes Wissen

VON LILLI BRAND

Es begann im Evi-Club am Stuttgarter Platz: Dort kamen immer viele Bauarbeiter rein. Manchmal war der ganze Flur voller Männer, und es war so verqualmt, dass man kaum etwas sehen konnte. Mit einem Portugiesen hatte ich mehrmals zu tun. Er war sehr nett, konnte aber kaum Deutsch, sodass er mir nicht richtig erklären konnte, was er wollte. Er legte sich einfach nackt aufs Bett und ließ mich machen. Alles, was ich tat, war anscheinend das Richtige. Es war das Übliche: Gummi überstreifen, blasen, auf ihn raufsteigen, sich hin und her bewegen – und fertig.

Ins Tutti in Prenzlauer Berg, meiner nächsten Station, kam einmal ein gut gekleideter Mann. Als wir auf dem Zimmer waren, meinte er, ich sähe seiner Mutter ähnlich. Während des Geschlechtsverkehrs sollte ich ihn mit „mein Sohn“ anreden. Das tat ich, wobei ich ihn kräftig lobte: „Das machst du gut, mein Sohn“, „Deine Mama möchte, dass du sie richtig fickst“, und so weiter. Nachdem er gekommen war, lag er still da und weinte.

Zu denen, die öfter ins Tutti kamen, gehörte ein türkischer Kommunist, der meistens so wenig Geld hatte, dass es nur für den Eintritt und ein Getränk reichte. Als er trotzdem einmal mit mir, „der Russin“, aufs Zimmer ging, fragte er mich dort als Erstes: „Bist du immer noch Kommunistin?“ Ich zuckte die Schultern und bat ihn um das vereinbarte Geld. „Vergiss den Kapitalismus, der uns bloß den Kopf verdreht, denke sozialistisch, brüderschaftlich“, sagte er. „Wenn du mir jetzt aus meiner männlichen Not hilfst, helfe ich dir später auch.“ Ich erwiderte: „Wir sind hier aber in einem kapitalistischen Land. Wer zahlt meine Miete?“ Schließlich rückte er das Geld raus. Hinterher gestand er mir, dass er es nicht genießen konnte, mit mir als Sozialistin zu schlafen, weil er dafür bezahlen musste.

Wir hatten da einen Stammgast, der meist nur im hinteren Raum Pornos kuckte, höchstens dass er mal einem der Mädchen ein Getränk spendierte. Einmal überredete ich ihn, mit mir aufs Zimmer zu gehen. Als er sich entkleidete, merkte ich, dass er eine Arm- und eine Beinprothese hatte. Ich starrte ihn an, woraufhin er wütend die Armprothese abschnallte und mich anfuhr: „Ich will für mein Geld Spaß haben und kein Mitleid.“ Ich gab mir Mühe, aber es lief nicht gut. Jedes Mal wenn ich seiner Meinung nach was falsch gemacht hatte, wurde er aggressiv. Ich war froh, als er schließlich nach einem anderen Mädchen verlangte.

Mein nächster Arbeitsplatz war das Lord Gabriel in Friedrichshain. Ich machte dort wiederholt Erfahrung mit Freiern, die versuchten, in den zwanzig Minuten, die siebzig Mark kosteten, zweimal abzuspritzen. Dazu benutzten sie verschiedene Tricks. Einer besteht darin, sich beim Orgasmus nichts anmerken zu lassen und einfach weiterzuvögeln. Mit der Zeit merkte ich es jedoch sofort, wenn der Schwanz plötzlich nicht mehr so steif war und das Präservativ wegen des Samens innen glitschiger geworden war. Der häufigste Trick war: Man saß mit ihnen im Pornoraum, und sie wurden immer erregter, schließlich willigten sie ein, mit aufs Zimmer zu gehen. Vorher wollten sie aber noch zur Toilette, sich die Hände waschen. Stattdessen onanierten sie dort auf die Schnelle, und anschließend auf dem Zimmer musste man sich dann umso mehr anstrengen, damit sie noch einmal abspritzen konnten.

Die deutschen Freier sind besonders dann anstrengend, wenn sie sich in einen verlieben. Im Freiburger Club Puma hatte ich mal so einen: Er kam pünktlich jeden zweiten Donnerstag, brachte mir immer eine Aufmerksamkeit mit, meistens Plüschtiere, und verlangte dafür, dass ich die ganze Zeit nur für ihn da war. Nicht nur auf dem Zimmer, sondern auch noch stundenlang an der Bar, um bei einem Getränk endlos mit ihm zu plaudern. Als ich den Club verließ, ließ ich gottlob auch diesen verliebten Freier hinter mir.

In den Senftenberger Puff Lucy’s Zuchthaus kam einmal eine Clique Jungs, die sich an der Bar lautstark über ihre sexuellen Eroberungen unterhielten. Irgendwann fragte mich einer von ihnen, ob ich mit ihm aufs Zimmer ginge. Weil er so jung aussah, befürchtete ich, dass er noch minderjährig war. Er beruhigte mich aber, indem er mir seinen Ausweis zeigte. Auf dem Zimmer war er plötzlich wie ausgewechselt: nicht mehr dreist und laut, sondern schüchtern und leise. Ich musste ihm von A bis Z alles erklären – und machen, während er wie ein Brett dalag. Dabei kam ich richtig ins Schwitzen, um ihn wenigstens zur Erektion zu bringen. Und auch das schaffte ich nur mit einer Zeitverlängerung. Meine Mühe lohnte sich allerdings: Er kam noch mehrmals wieder, wobei sich seine Schüchternheit langsam legte.

Es gibt umgekehrt auch viele Männer, die jedes Mal ein neues Mädchen ausprobieren. Zu diesen gehörte ein türkischer Gemüsehändler, der regelmäßig im Tutti verkehrte. Er war sehr charmant und höflich, spendierte jedesmal Champagner und zahlte für mehrere Stunden. Dabei wollte er immer nur lecken, und es gefiel ihm sehr, wenn die Frau dabei einen oder sogar mehrere Orgasmen bekam. Wobei wir das jedoch meistens vortäuschten.

Und dann gab es da noch einen irischen Bauarbeiter, der gerne neue Mädchen nahm. Er machte mit ihnen, was er wollte, und danach beschwerte er sich regelmäßig beim Rauschmeißer, dass sie nur dagelegen und nichts gemacht hätten – und verlangte sein Geld zurück. Einmal geriet er auch an mich. Seine Klamotten stanken, und ich forderte ihn auf, erst mal zu duschen. Danach blies ich ihm einen, und er bekam sofort einen Orgasmus. Als ich ihm sagte, das war’s, wurde er wütend und behauptete, dass wir nicht mal gevögelt und ich ihn also beschissen hätte. Ich antwortete ihm, es sei nicht meine Schuld, dass er so schnell gekommen sei. Er verlangte nach dem Rausschmeißer. Als der kam, zeigte ich ihm bloß das Kondom voll Sperma, woraufhin der Ire Hausverbot bekam.

Angenehm war dagegen ein älterer Gast, der immer freundlich, rücksichtsvoll und geradezu zärtlich blieb. Das war in Pirmasens im Nachtschmetterling. Er fragte mich bei jeder Berührung, ob es mir recht sei, und bei jeder Bewegung, ob mir das auch nicht wehtue und mir das Ganze nicht zu anstrengend werde. Wenn er fertig war, zog er sich an und bedankte sich höflich.

Ein pensionierter Professor kam jede Woche in das Pirmasenser Etablissement; er bestellte ein Getränk und setzte sich ins angrenzende Pornokino. Er tat immer so, als wäre er zum ersten Mal da und als wären ihm alle Frauen unbekannt. Zu mir sagte er jedes Mal: „Wie heißen Sie, mein schönes Kind? Ich habe Sie hier noch nie gesehen, setzen Sie sich zu mir, damit wir uns näher kennen lernen können.“ Dann bestellte er einen Piccolo für mich, und nach einer Weile gingen wir aufs Zimmer. Dort passierte nichts weiter, als dass er mich massierte, während er mir und meinem Körper Komplimente machte. Dieses Ritual wiederholte sich bei jeder Frau und bei jedem seiner Besuche.

Im Lord Gabriel nannte mich ein Gast jedes Mal „Martha“. So hieß seine Frau, die er sehr liebte, die jedoch nicht mehr mit ihm schlafen wollte, wie er mir sagte. Ich hätte große Ähnlichkeit mit ihr, deswegen ging er stets mit mir aufs Zimmer. Wenn wir auf- oder nebeneinander lagen, flüsterte er mir ins Ohr: „Oh Martha, wenn du wüsstest, wie ich dich liebe!“

Meine Kollegin im Lord, Vicky, sah mir sehr ähnlich. Sie hatte einen netten, intelligenten Stammgast. Ich wunderte mich, warum er nie mit mir aufs Zimmer ging, selbst wenn sie ihren freien Tag hatte. Irgendwann fragte ich Vicky: „Was machst du eigentlich mit ihm?“ Sie lachte und erzählte mir, dass sie kaum mit dem Mann vögelte, stattdessen versuche er, ihr Deutsch beizubringen. Sogar Lehrbücher besorgte er ihr. Weil ich so viel besser Deutsch könne als sie, habe er anscheinend an mir kein Interesse, vermutete sie.

Einmal hatte ich einen Gast, der brutal behandelt werden wollte. Ich sollte ihn nicht nur mit meinen Stiefelabsätzen treten, sondern auch auspeitschen. Ich erklärte ihm, dass es mir dafür hier an Hilfsmitteln fehle, ich hätte jedoch Peitschen und Ähnliches zu Hause. Wir einigten uns auf ein Honorar, und er erschien zum vereinbarten Termin bei mir. Ich erklärte ihm, dass er nun jeden meiner Befehle ausführen müsse, sonst würde ich ihn bestrafen. Wenn er jedoch brav gehorche, dürfe er zur Belohnung mir die Stiefel küssen, und wenn ich mit ihm sehr zufrieden sei, könne er mir auch noch die Möse lecken und sich dabei einen runterholen. So geschah es dann auch.

Er war anschließend sehr zufrieden mit der Behandlung, gestand mir jedoch, dass mein Honorar zu hoch für ihn sei. Wir einigten uns, dass er statt der dreihundert Mark eine Stunde lang meine Wohnung sauber machen sollte, einschließlich Fensterputzen. Nur dass es fortan umgekehrt verlief. Ich rief ihn an, wenn meine Wohnung wieder mal gründlich geputzt werden musste.

Umgekehrt hatten wir im Kaiserslauterner Club Belle de Jour (das nach einer Razzia in Pretty Woman umbenannt wurde) einen reichen Freier, einen Anwalt, der die Mädchen auspeitschen wollte: für dreitausend Mark fünfzig Schläge auf den nackten Hintern – mit einer Lederpeitsche, die er eigens dafür mitzubringen pflegte. Als ich einmal dringend eine größere Geldsumme brauchte, erklärte ich mich zu der schmerzhaften Prozedur bereit. Aber schon nach drei oder vier Hieben musste ich ihn bitten, damit aufzuhören. Er streichelte mir daraufhin sanft über den Po – und schlug mich dann erneut. Es tat so weh, dass ich es irgendwann nicht mehr aushielt und das Ganze beendete. Danach konnte ich tagelang nicht richtig sitzen und musste mir meinen Po mit Eis kühlen.

Manchmal gibt es auch Situationen, in denen man sich in einen Freier verliebt. Mir passierte es an einem Tag im Tutti, an dem es mir nicht gut ging und ich überhaupt keine Lust hatte, zu arbeiten. Da kam ein gutaussehender Mann herein, setzte sich zu mir an die Bar und fragte, ob ich ihm Gesellschaft leisten könne. Er sah sympathisch aus, und ich hatte nichts dagegen. Nach einer Weile gingen wir aufs Zimmer und hatten „Blümchensex“ miteinander. Anschließend verabschiedete er sich höflich. Am nächsten Tag kam er wieder und bezahlte für zwei Stunden.

Das wiederholte sich ein paarmal. Schließlich fing ich an, von ihm zu träumen. Als er mich fragte, ob wir uns privat treffen könnten, lehnte ich deswegen nicht ab. Wir gingen zusammen mehrmals aus, und ich bat ihn irgendwann, mich nicht mehr während der Arbeit zu besuchen, er könne auch ohne zu bezahlen mit mir schlafen, bei mir zu Hause. Langsam gewöhnte ich mich an ihn, und wenn wir uns nicht sahen, fehlte mir was. Er bedrängte mich, meinen Job aufzugeben, aber das konnte ich nicht, deswegen ging die Beziehung nach einiger Zeit wieder auseinander.

Manchmal veranstaltete der Chef des Tutti eine „Orgie“ in seinem Lokal, mit geladenen Gästen. Dazu gehörten seine besten Freunde und seine Freundin. Die Teilnahme der Mädchen war freiwillig. Aus Neugierde nahm ich auch einmal daran teil, es wurde außerdem gut bezahlt. Auf den Orgien fand alles statt: auch Sex zwischen Männern und zwischen Frauen. Ich musste einen Dildo umschnallen und den Chef in den Arsch ficken, während seine Freundin ihn anpisste.

Gelegentlich vermittelte er uns auch nach draußen, an gute Freunde oder Kunden. Einmal fuhr ich zusammen mit zwei Kolleginnen in eine Grunewaldvilla. Das Haus gehörte einem reichen Arzt, der uns mit seinem Freund erwartete. Die eine von uns hatte Glück: Sie bekam ihr Geld fürs Nichtstun. Wir anderen beiden Mädchen aber mussten unser Geld hart verdienen, besonders ich, denn der Gastgeber ging mit mir in seinen Swimmingpool, wo ich ihm unter Wasser einen blasen sollte. Weil ich nicht schwimmen kann, war ich mehr damit beschäftigt, nicht abzusaufen, als ihn zufrieden zu stellen. Schließlich brachen wir den Versuch ab und gingen in die Sauna, wo ich festen Boden unter den Füßen hatte und ihn in null Komma nix befriedigte.

LILLI BRAND wurde 1974 als Ludmila Nikolajewna Ischtschuk in der Ukraine geboren und arbeitete dort als Krankenschwester, Kioskbetreiberin und Tänzerin, bevor sie eine, wie sie es nennt, „so genannte Schlepperbande“ nach Berlin und wenig später in ein Bordell nach Freiburg brachte. Seit ihrer Heirat mit einem Herrn Brand lebt sie in Berlin. Ihre Texte erschienen in der taz, der Frankfurter Rundschau, der Süddeutschen Zeitung und in der jungen Welt. Im Herbst erscheint bei DVA ihr erstes Buch, „Transitgeschichten“