„So sehen Gewinner aus“

Keine faulen Kompromisse, kein elegischer Schund, Fatih Akin hat den Berlinale-Trend bekämpft – und besiegt

VON CRISTINA NORD

Manche Filme verkehren in den letzten Minuten ihren Lauf. Was bisher geschah, ist plötzlich als Täuschung zu erkennen. Auf einen Schlag wird entkräftet, was immer man gedacht haben mag, die Schlusswendung erzwingt eine neue Lesart. Die eben zu Ende gegangene Berlinale ist ein solcher Film, da sie eine vergleichbar radikale Schlusswendung erlebte. In letzter Sekunde wurde aufgehoben, was seit der Eröffnung am 5. Februar schief gegangen war.

Die Preisverleihung am Samstagabend amüsierte und rührte, gerade weil sehr charmant nicht alles nach Plan verlief. Dieter Kosslick, der Leiter des Festivals, und Anke Engelke, die Moderatorin, machten sehr schlechte Späße, über die man dennoch lachte. Engelke hatte einen glitzernden Körperpuder aufgetragen, der bald die Anzüge aller der von ihr Geherzten zum Schimmern brachte. Die Mitglieder der Jury sahen besonders gut aus, allen voran die Schauspielerin und Regisseurin Valeria Bruni Tedeschi in einem hinreißend ausgeschnittenen schwarzen Kleid, gefolgt von der Jurypräsidentin Frances McDormand, deren Nadelstreifenanzug unschlagbar lässig war. Claudia Cardinale betrat für einige Augenblicke die Bühne, um dem jungen Regisseur Joshua Marston einen Preis zu überreichen, und als Marston anschließend während seiner Dankesrede vor Rührung nicht mehr weiterwusste, da war es so, wie eine Preisverleihung im besten Falle ist: ergreifend.

Charmante Pannen am Abend

Auch den nackten, protestierenden Berliner Studenten gelang es, im Berlinale-Palast Platz zu finden. Nachdem die Polizei versucht hatte, sie aus dem Saal zu treiben, griff Dieter Kosslick besänftigend ein. Hektisch verlasen die Studenten daraufhin ihre Erklärung für die Beibehaltung des Sozialtickets im öffentlichen Nahverkehr. „English, please“, riefen die des Deutschen nicht mächtigen Gäste, aber das wollte den Studenten nicht glücken. Je elastischer die Veranstaltung auf die Störung reagierte, umso klarer trat zutage, dass zwischen Establishment und Protest keine klare Linie verläuft. Zunächst dachten ohnehin viele, es handele sich um eine zur Dramaturgie gehörende Inszenierung. Als klar wurde, dass es nur eine Unterbrechung war, herrschte im Publikum Konsens: Die Studenten sollten ihre Forderungen vortragen. Die nicht eben flammende Rede wider den Sozialabbau und die Kürzungen an den Universitäten wurde wohlwollend beklatscht, solange sie nicht zu lange dauerte.

Der wesentliche Grund dafür, dass diese 54. Berlinale trotz des schlechten Verlaufs ein Happy End bekam, lag an den Entscheidungen der Jury. Der Goldene Bär ging an den richtigen Film: an Fatih Akins „Gegen die Wand“, einen Film mit viel Blut und Verzweiflung über eine junge deutsch-türkische Frau, die sich durch die Ehe mit einem 40-jährigen türkischen Versager vor ihrer konservativen Familie retten will. Zum ersten Mal seit 18 Jahren hat damit wieder ein deutscher Film gesiegt. „So sehen Gewinner aus“, triumphierte der 30-jährige Akin. Auch die übrigen Auszeichnungen trafen in den meisten Fällen Filme, die es verdienten. Der koreanische Regisseur Kim Ki-Duk erhielt für „Samaria“ (Die Samariterin) den Silbernen Bären für die beste Regie, und das ist nicht nur durch die herausragende letzte halbe Stunde gerechtfertigt, in der Vater und Tochter in eine herbstliche Berglandschaft aufbrechen, um in Ordnung zu bringen, was aus den Fugen war.

Seltsam widersprüchlich ist nur, dass das unterkühlte Spiel Sandino Morenos die gleiche Ehrung erfuhr wie das Overacting Charlize Therons („Monsters“). Catalina Sandino Moreno schluckt in ihrer Hauptrolle in „María llena eres de gracia“ (Maria voll der Gnade) als Drogenschmugglerin 62 Kokskugeln, als nehme sie Hostien in den Mund. Und trotz der katholischen Aufladung zweifelt man nicht eine Sekunde daran, dass man es mit einem ganz und gar undramatischen, entschlackten Realismus zu tun hat.

Der Silberne Bär für den männlichen Hauptdarsteller schließlich ging an Daniel Hendler für seine Leistung in „El abrazo partido“ („Die verlorene Umarmung“). Der Film des argentinischen Regisseurs Daniel Burman erhielt außerdem den Großen Preis der Jury. Mag er sich auch bei den Nebenfiguren verzetteln, seinen Kern, den Vater-Sohn-Konflikt, indes erzählt er souverän.

Die Entscheidung für „Gegen die Wand“ ist ein doppeltes Signal. Zum einen belegt sie, dass das Kino der guten Absicht, dem in Berlin einige Wettbewerbsbeiträge zuzuordnen waren, uninteressant ist, bisweilen ärgerlich, wie John Boormans „Country of my skull“ hinreichend beweist. Die Auswahl von Filmen aufgrund ihres Sujets ist kein Konzept für einen internationalen Wettbewerb, eine aufrechte politische Haltung keine ausreichende Basis für gutes Kino. Um nur ein Beispiel zu nennen: Vinko Brešans Spielfilm „Svjedoci“ („Die Zeugen“) mag für die innerkroatische Diskussion des Bürgerkrieges relevant sein, insofern der Regisseur einen bitterbösen Blick auf den kroatischen Chauvinismus wirft. Davon abgesehen, ist „Die Zeugen“ einzig wegen der Zeitstruktur von Interesse; das versöhnlerische Ende überschreitet die Grenze zum Kitsch.

Das andere Extrem bildeten die Hollywoodfilme des offiziellen Programms: Sie erweckten fast durchweg den Eindruck, sie seien ausgewählt worden, weil dann die Stars nach Berlin kommen würden. Prompt blieben die Celebreties jedoch zu Hause, und Dieter Kosslick stand mit dem elegischen Schund von „Cold Mountain“ allein auf dem roten Teppich. Vor diesem Hintergrund wünscht man der kommenden Berlinale weniger Kompromissfilme und den Mut der Beschränkung. Wenn die Ausbeute an guten Filmen gering ist, dann sollten eben nicht 23, sondern nur 18 um die Bären konkurrieren.

Darüber hinaus zeigt die Entscheidung für „Gegen die Wand“, dass wagemutiges Kino geschätzt wird. Gelten die Sonntagsreden über die neue Kraft des deutschen Films gewöhnlich Konsensfilmen wie „Das Wunder von Bern“, „Good Bye, Lenin!“ oder „Rosenstraße“, so bildet Akins Film eine wohltuende Ausnahme, eben weil er sich nicht auf faule Kompromisse und die Mittel von Opas Kino einlässt.

Akin pfeift darauf, Maß zu halten, er will die epische, die große Dimension des Kinos, er hat keine Angst vor Pathos und Blut, aber genauso ist er imstande, dieses Bestreben in Ruhe und Detailsicherheit zu erden. Dass sein Film zuerst für den Wettbewerb vorgesehen war, dann ins Panorama verlegt und erst in letzter Minute wieder in den Wettbewerb aufgenommen wurde, ist dabei ein weiteres Indiz für die Unsicherheit der Auswahlkriterien.

Ihren dunkelsten Tag erlebte die Berlinale, als Romuald Karmakars Wettbewerbsbeitrag „Die Nacht singt ihre Lieder“ vorgestellt wurde. Nicht, weil der Film schlecht gewesen wäre, sondern weil er so viel Ungeduld, so viel Empörung, so viel hysterische, reflexhafte Abwehr hervorrief. Es war wie in Cannes, wo Vincent Gallo mit seinem Road Movie „The Brown Bunny“ allen Unmut über den schwachen Wettbewerb auf sich zog. Wie Gallo vor einem Dreivierteljahr wurde Karmakar zum Sündenbock des Festivals. Bezeichnenderweise blieb eine solche Übertragung von schlechter Laune in Venedig aus. Dort hatte der Wettbewerb zwar auch Tiefpunkte wie „Imagining Argentina“, doch bot er insgesamt genug Abwechslung, um Überreaktionen wie in Cannes oder jetzt in Berlin auszuschließen.

Während der Pressevorführung von „Die Nacht singt ihre Lieder“ verfielen viele Journalisten von den ersten Minuten an in lautes Hohngelächter. Warum? Weil „Die Nacht singt ihre Lieder“ nicht den gängigen Vorstellungen von Kino entspricht? Wie eng wäre dann der Horizont der Wahrnehmung! Nichts ist schlimm daran, wenn ein Regisseur erprobt, wie eine Fusion von theatralischen und filmischen Ausdrucksmitteln aussieht; wenn er eine der Bühne entlehnte Sprache mit überaus präzisen, langen Kameraeinstellungen kombiniert; wenn er sich an der Frage abarbeitet, wie Figuren im Raum positioniert werden können; wenn er ein Gespräch in statischen Einstellungen als Aneinandervorbeireden inszeniert, statt es in der Montage von Schuss und Gegenschuss als gelingende Kommunikation auszugeben.

Billiger Hohn für Karmakar

Karmakar ist bei weitem nicht der einzige Filmemacher, der so etwas versucht. Lars von Trier etwa hat mit „Dogville“ einen Bühnenraum für den Film erschlossen. Selbst Akin, dessen „Gegen die Wand“ mit „Die Nacht singt ihre Lieder“ nichts gemein hat, arbeitet mit einem Bühnenmittel: Entreakten, den Film unterbrechenden Gesangseinlagen.

Vielleicht liegt die erboste Reaktion daran, dass „Die Nacht singt ihre Lieder“ nicht vorhat zu unterhalten. Das führt zu einer traurigen Frage: Wenn das Unterhaltende, Leichte und Eingängige im Lauf der letzten 35 Jahre in den Kanon aufgenommen worden ist, ist man dann jetzt an dem Punkt angelangt, wo der Einschluss des einen den Ausschluss des anderen zwingend zur Folge hat? Und wäre das nicht über die Maßen blöd?

Diese und andere Widersprüche heben sich im Glanz des letzten Berlinale-Abends nicht auf. Wenn ein Film sich einer überraschenden Schlusswendung bedient, bleibt ein Problem ungelöst: Steht der akribische Aufbau der Täuschung nicht in einem Missverhältnis zu seiner blitzhaften Entzauberung? Der 54. Berlinale ist es nicht gelungen, eine überzeugende Antwort zu geben.