Windespfeifen und Grasgewischel

Arno Schmidt feierte es als „ein Buch wie Homer“, James Fenimore Cooper inspirierte es für seine „Lederstrumpf“-Romane: Das Tagebuch der Offiziere Meriwether Lewis und William Clark, die Anfang des 19. Jahrhunderts begannen, den nordamerikanischen Kontinent bis hin zum Pazifik zu besiedeln

Die Jagd wurde zu ihrer liebsten Abwechslung im Einerlei der FlussfahrtLese-Vorschule für eines der schwierigsten Werke der Weltliteratur: „Finnegans Wake“

VON JAN SÜSELBECK

Es war einmal in Amerika. „Wir machten uns nun auf, um in ein Land von wenigstens zweitausend Meilen Breite einzudringen, welchen der Fuß zivillisierter Menschen noch nie betreten“. 1804 fuhren die Offiziere Meriwether Lewis und William Clark mit etwa vierzig Männern den nordamerikanischen Missouri-Fluss hinauf, um westlich der Rocky Mountains einen schiffbaren Weg zum Pazifik zu finden. Die Expedition erfüllte eine geopolitische Mission. Im März 1803 hatte die Administration des US-Präsidenten Thomas Jefferson (1783–1826) den Franzosen das riesige Gebiet zwischen dem Mississippi und den Rocky Mountains für den Spottpreis von 15 Millionen Dollar abgekauft. Das Territorium des US-Staates vergrößerte sich so um 2 Millionen Quadratkilometer. Doch in den riesigen unbekannten Gebieten vermutete man feindselige Indianerstämme.

Die jetzt bei Zweitausendeins in deutscher Erstausgabe erschienenen und von Friedhelm Rathjen übersetzten Lewis-und-Clark-Tagebücher handeln also von der beginnenden Kolonisation des nordamerikanischen Kontinents. Die Texte sind eine spannende Lektüre, aber auch eine historische Quelle ersten Ranges. Wer nach wilden Westernabenteuern sucht, sollte trotzdem besser mit Karl May vorlieb nehmen. Denn anders als erwartet, kam es während der Expedition kaum zu gewaltsamen Zusammenstößen mit indianischen Ureinwohnern. Außer einem der Mitreisenden, der wahrscheinlich an einem nicht diagnostizierten Blinddarmdurchbruch verschied, kehrten alle Männer nach den unglaublichen Strapazen ihrer Reise 1806 gesund nach St. Louis zurück. Ihr Rückweg nach Washington wurde zum Triumphzug.

Diese unerwartete Erfolgsgeschichte Lewis’ und Clarks machte die Mission zum US-Mythos einer friedlichen Landnahme durch das „zivilisierte“ Amerika. Am 31. Mai 1805 schreibt Lewis atemlos in sein Tagebuch: „Wie wir weiterzogen schien es als wenn diese Szehnen der visionären Verzauberung niemals ein Ende nehmen würden.“

Poetische Verzückungen wie diese bestimmten den Alltag der Reisenden allerdings weniger. Lewis’ und Clarks friedliche Odyssee durch die weiten Landschaften des Westens barg auch schon den Ursprung von Krieg, Ausrottung und Gewalt in sich. Die Vermessungen und Erkundungen, die sie unternahmen, bereiteten den Siegeszug einer im Kern zerstörerischen Zivilisation vor. Großteile der Tagebücher bestehen folgerichtig aus knappen Aufzählungen geschossener Hirsche, Bären und Biber. Die Erkunder feuerten nur so um sich – und beileibe nicht nur zum Zweck der eigenen Verpflegung. Die Jagd wurde zu ihrer liebsten Abwechslung im Einerlei der Flussfahrt. Und während sich die unterwegs angetroffenen Indianer zur Verwunderung der Reisenden von Beeren, Wurzeln und Mais ernährten, verdrückten die Weißen schon zum Frühstück gierig alles, was nur irgend zu Fleisch verarbeitbar war: Ganze Büffel und Pferde, vor allem aber auch Hunde lernten sie als neue Leibspeise schätzen.

Es ist überraschenderweise gerade die Lakonie der Reiseprotokolle, die die Vorstellungskraft des Lesers besonders anregt. Zahlenkolonnen, Aufzählungen von Proviantverlusten, Jagderträgen und Bootsunfällen reihen sich trocken aneinander und ziehen den Rezipienten dennoch immer tiefer in den Expeditionsalltag hinein. Mittels der Reproduktion einer historischen Landkarte, die Clark seinerzeit selbst zeichnete und die dem bibliophil gestalteten Band beigefügt ist, vermag man den Verlauf der Expedition geografisch nachzuvollziehen.

Öfters wiederkehrende, nüchterne Notate wie das vom 30. März 1805, wonach sich viele der Männer der Expedition bei Indianerfrauen mit Geschlechtskrankheiten angesteckt hätten, erfreuen geübte Gedankenspieler womöglich besonders. Der spitzbübische Hinweis des erklärten Lewis-und-Clark-Fans Arno Schmidt, die üppigen landschaftlichen Kulissen der später so erfolgreichen Reise- und Abenteuerromane des 19. Jahrhunderts hätten eine unbewusste Sehnsucht nach erotischer Vorlust beim Publikum befriedigt, erklärt zumindest seine eigene Faszination für den literarischen Faktensteinbruch der Tagebücher. Schmidt lobte ihr „permanentes Gemisch aus Windespfeifen & Grasgewischel; das, wer es einmal vernommen hat, nicht mehr missen möchte“, ja rühmte sie sogar überschwänglich als „ein Buch wie Homer!“

Auch ein anderer literarischer Favorit Schmidts, James Fenimore Cooper, ließ sich von Lewis’ und Clarks Notaten für den Abschlussband seiner „Lederstrumpf“-Romane, „Die Prärie“ (1827), inspirieren. Die Handlung verlegte er in das exotische Gebiet westlich des Mississippi, das ihm selbst unbekannt war. Bei Lewis und Clark konnte er Informationen über die dort vorkommenden Grizzlybären finden, eine Spezies, über die damals in den USA noch so gut wie nichts bekannt war. Edgar Allan Poe, den Arno Schmidt übersetzte, erwähnt die Tagebücher erstmals im „Arthur Gordon Pym“ (1838). Sein fiktiver Reisebericht „Das Tagebuch des Julius Rodman“ (1840) war zu weiten Teilen ein direktes Lewis-und-Clark-Plagiat.

Arno Schmidt selbst schließlich zitierte Lewis und Clark an zahlreichen Stellen seines Großbuchs „Zettels Traum“ (1970) – unter anderem im Rahmen der abstrusen Behauptung des Protagonisten Daniel Pagenstecher, die manifesten orthografischen Mängel der Tagebücher prädestinierten sie zur idealen Lese-Vorschule eines der schwierigsten Werke der Weltliteratur: „Finnegans Wake“ von James Joyce. Demnach barg die sprachliche Normabweichung – die bei Lewis und Clark allerdings daher rührte, dass sie schlicht der englischen Rechtschreibregeln nicht mächtig waren – die Möglichkeit, den Leser für die bei Joyce wohl bewusst gestalteten sprachlichen Doppeldeutigkeiten zu sensibilisieren, die erotische Subtexte indizieren. So demonstriert Pagenstecher seiner Gesprächspartnerin Wilma die so genannte „Etym-Theorie“ an Poes „Rodman“-Roman, in dem es selbstverständlich nur so von versteckten Hintern wimmeln soll: „Wie heißt der Bär auf Lateinisch ?“ – (Gut): „nun sprich’s englisch aus: ? – [.]: ‚arse’s –‘, (probearte Sie, betroffen?)“

Genau in der Überbewertung dieser skurrilen literaturgeschichtlichen und intertextuellen Zusammenhänge jedoch besteht das Manko der nun vorliegenden Übersetzung. Der bekannte Schmidt-Philologe Rathjen hat aus der Textmasse der 13-bändigen, heute maßgeblichen Edition der historischen Tagebücher (1983–2001) eine umfangreiche Auswahl getroffen. Dabei hat er sich bemüht, die vielen Rechtschreibfehler der Originaltexte zu bewahren, in dem er sie gleich mit ‚übersetzte‘. Es verstehe sich von selbst, urteilt Rathjen, „daß in einer Ausgabe, die die Tagebücher als ein Lieblingsbuch von Arno Schmidt vorstellt, die von Schmidt bejubelte Rechtschreibschwäche der Autoren nicht einfach vernachlässigt werden durfte“.

Mit dem Erfolg, dass nun der Lesefluss durch eine Unmenge verstörender sprachlicher Errata ins Stocken gerät. Zwar begründet Rathjen sein Vorgehen in einem informativen Nachwort genau. Es fragt sich aber, ob es wirklich sinnvoll ist, die englische Verschreibung des „warmen Tags“ zu einem „worm day“ als „wurmen Tag“ zu übersetzen. Diese wortwörtliche Übertragung der Originaltexte gebiert verwirrende etymologische Varianten wie „Wassermillionen“, „röhrende Wasserfälle“ oder auch den „röhrenden Donner“.

Eine stillschweigende sprachliche Glättung hätte dem Buch nicht geschadet. Zumal Rathjens vermeintliche Werktreue den Originaltext im Deutschen womöglich sogar noch stärker verfälscht, als es eine behutsame Korrektur jemals vermocht hätte. Der Übersetzer hofft dennoch, „daß dies niemanden davon abhält, sich an der jedem Duden eine lange Nase drehenden anarchistischen Orthographie der Tagebücher von Lewis und Clark höchstlichst zu erbauen“.

Trotz dieser Mängel ist das Projekt zu loben. Nicht zuletzt das ausführliche Nachwort, die weiterführende Literaturliste und ein dem Anhang eingegliedertes kleines Lexikon tragen zusätzlich dazu bei, den ersten deutschsprachigen Einblick in eine der spektakulärsten Expeditionen der Geschichte zu einem erstaunlichen Leseerlebnis zu machen.

Meriwether Lewis & William Clark: „Tagebuch“. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Friedhelm Rathjen. Deutsche Erstausgabe. Einmalige limitierte und nummerierte Ausgabe. Zweitausendeins, Frankfurt am Main, Dezember 2003, 655 Seiten, 40 Euro