Kino als Form von Gymnastik

Mit der Kamera den Halt verlieren: Jean Rouch, der Wegbereiter des ethnografischen Dokumentarfilms, ist tot

Durch seinen experimentellen Filmstil ist Jean Rouch schon früh zur Legende des französischen Autorenkinos geworden, er gilt als einer der Wegbereiter der Nouvelle Vague. Cinéma Vérité nannte er seine Filmtechnik, mit der er den objektiven Realismusanspruch des dokumentarischen Films immer wieder zu durchbrechen versuchte. Durch Rouchs Kameraführung vor allem in frühen Filmen wie „Les Maîtres Fous“ (1955) und „Chronique d’un été“ („Chronik eines Sommers“) von 1960 wird deutlich, dass seine Bilder die Realität nicht unverändert abbilden, sondern eine ganz eigene Wirklichkeit produzieren.

1917 in Paris geboren, war Rouch in den 50er-Jahren als Straßenbauingenieur im Niger stationiert. Von den Auswirkungen der Kolonialisierung im Land schockiert, beschloss er, Ethnologie zu studieren und als ethnografischer Filmemacher nach Westafrika zurückzukehren. Seit 1947 hat er über 150 Dokumentar- und Spielfilme realisiert und dabei eine auf Improvisation basierende Ästhetik entwickelt. Einer Anekdote zufolge hatte er an einem Drehort das Stativ vergessen und aus der Not heraus erstmals mit einer beweglichen Handkamera gefilmt. So ist sein Stil entstanden, deren zentrales Merkmal die Interaktion des Filmemachers mit den Gefilmten ist.

Gemäß der Philosophie des Cinéma Vérité entsteht ein Großteil der gefilmten Situationen erst durch die Anwesenheit der Kamera und die künstliche Situation des Filmens. Rouch stellte diesen Effekt, der zuvor lediglich als Störfaktor wahrgenommen wurde, ins Zentrum seines filmischen Schaffens. Indem er mit der Kamera sichtbar und aktiv in die Welt der Gefilmten eintritt, provoziert er Reaktionen, die Aufschluss darüber geben, in welcher Weise Menschen sich selbst inszenieren, wenn sie wissen, dass sie gefilmt werden. Damit begibt sich Rouch auf eine filmische Metaebene, bei der den Gefilmten die Möglichkeit gegeben wird, für sich selbst zu sprechen und ihr eigenes Handeln zu erläutern.

In allen seinen Filmen stand die Begegnung zwischen zwei Kulturen im Vordergrund. Stets suchte er die Konfrontation mit dem Fremden, um dann als Vermittler auftreten zu können. Eine Fähigkeit, die ihn auch als Generalsekretär des Comité du film éthographique und Präsidenten der Cinémathèque française ausgezeichnet hat.

Das Kino stellte für ihn eine Form der Gymnastik dar, bei der den Halt zu verlieren zum künstlerischen Selbstverständnis gehört und den eigentlichen Reiz ausmacht. Rouch: „Wenn man ein guter Geschichtenerzähler ist, dann ist die Lüge wahrer als die Realität, und wenn man ein schlechter Geschichtenerzähler ist, dann ist die Wahrheit schlechter als eine halbe Lüge.“ Erst vor zwei Jahren noch war Rouch auf der Berlinale zu Gast und hat seinen neuen Film persönlich präsentiert. Sein lebenslanger Traum galt einem Kino, das die Grenzen der Engstirnigkeit zu sprengen vermag. Am Mittwoch ist der 88-jährige Filmemacher in der Nähe von Niamey, der Hauptstadt der Republik Niger in Westafrika, bei einem Autounfall tödlich verunglückt.

MICHAELA SCHÄUBLE