Moralische Idioten

Ernst Klees Lexikon zur NS-Zeit ist so spannend wie lehrreich. Vor allem enthüllt es: „Wer war was vor und nach 1945“

VON CHRISTIAN SEMLER

Es mangelt nicht an Biografien und Lexika zu den Akteuren des Nazi-Regimes, und dennoch ist Ernst Klees „Personenlexikon zum Dritten Reich“ keineswegs ein überflüssiger Nachzügler. Das Werk wurde quasi im Alleingang erarbeitet, ist die Frucht jahrzehntelanger Beschäftigung mit Tätern, Helfern und Nutznießern des „Dritten Reiches“. Es versammelt rund 4.300 Kurzbiografien. Damit bietet es die bei weitem umfassendste Sammlung von einschlägigen Lebensläufen.

Klee hat die Literatur bis in die jüngste Zeit ausgewertet. Zwei Stichproben mögen dies belegen: Die Publikationen im Rahmen des laufenden Forschungsprojekts des Max-Planck-Instituts über dessen Vorläufer, das Kaiser-Wilhelm- Institut, in der Nazizeit finden ebenso Berücksichtigung wie neue Elitenanalysen, etwa Michael Wildts „Generation der Unbedingten“, eine Darstellung des Führungskorps des Reichssicherheitshauptamts. Entsprechende Hinweise bei Klee erleichtern ein vertieftes Studium.

Der Untertitel des Buchs beschreibt gleichzeitig sein Hauptverdienst: „Wer war wer vor und nach 1945“. Über Karrieren unter dem Nazismus zu forschen und die Nachkriegszeit auszublenden, wie es in einer Reihe ansonsten verdienstvoller Arbeiten geschieht, verkürzt die deutsche Zeitgeschichte um eine wesentliche Dimension. Denn es waren diese hundertfach fortgesetzten Karrieren, die die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik zwar nicht bestimmten, aber nachhaltig prägten. Mit wenigen Ausnahmen glitten Ideologen und Profiteure, oftmals auch Täter und Gehilfen des Massenmordes umstandslos in die Nachkriegszeit hinüber, mutierten zu aufrechten Demokraten.

Verharmlosen, übertünchen, leugnen – das war lange Zeit die Verhaltensmaxime. Diese Abwehrstrategie konzentrierte sich zu einer systematischen Gesprächsverweigerung gegenüber der nachfolgenden Generation. Hierin liegt die Wurzel der späteren Rebellion der 68er – und nicht in billiger Abgrenzungssucht der Jüngeren, die niemals der totalitären Versuchung ausgesetzt waren. Jeder heutige Leser von Klees Lexikon wird diesen Zusammenhang nachvollziehen können.

Obwohl Ernst Klee den Personalbestand des nazistischen Terror- und Manipulationsapparats minutiös auflistet, steht doch die Legion der Helfershelfer und Profiteure im Mittelpunkt des Interesses. Besonders die Rolle von Wissenschaftlern im Allgemeinen und Naturwissenschaftlern sowie Ärzten im Besonderen akzentuiert er. Diese Vorgehensweise rechtfertigt sich aus zwei Gründen. Zum einen waren zahllose Wissenschaftler für die Formierung des totalitären Staates und dessen Kriegsvorbereitungen unentbehrlich – viele davon keineswegs überzeugte Nazis. Und zum anderen gaben Wissenschaftler den nazistischen Leitvorstellungen einen seriösen Anstrich. Man denke nur an die Theorien zu Rasse und Lebensraum.

Wer Klees Auswahlprinzip denunziatorisch nennt, blockiert jede Einsicht in die Funktionsweise des „Dritten Reiches“. Zu Recht wendet er sich gegen eine Tendenz, die zwischen einem engen Kreis von Verantwortlichen und den Gutgläubig-Ahnungslosen unterscheidet. Das Lexikon zeigt vor allem: Es gab viele Quellen und Motive für die Unterstützung des Naziregimes.

Nehmen wir stellvertretend die Biografie von Adolf Butenandt – Biochemiker, Nobelpreisträger und Präsident der Max-Planck-Gesellschaft nach dem Krieg. Klee listet die Etappen von Butenandts Karriere in der NS-Zeit lückenlos auf: von der Unterzeichnung des Bekenntnisbriefs deutscher Wissenschaftler zu Adolf Hitler 1933 bis zu seiner Mitarbeit in wissenschaftlichen Institutionen, die dem Massenmord zuarbeiteten. Fast überflüssig zu erwähnen, dass ein Lexikon wie der Brockhaus noch 1997 diese dunkle Seite Butenandts mit keinem Wort erwähnt. Ernst Klees Lexikon erweist sich auch hier als unvermindert aktuell.

Gemessen an den Verdiensten der Arbeit, fällt das Kritikwürdige nicht entscheidend ins Gewicht. Manche der Kurzbiografien haben einen etwas subjektivistischen Einschlag – etwa die von Adolf Hitler. Bei ihr begnügt sich Klee mit genau 18 Zeilen; zwei Zitate von 1923 und 1941 sollen die Kontinuität von Hitlers antisemitischen Ausrottungsfantasien belegen. Wenn Klee meint, alle anderen Umstände von Hitlers Herrschaft, insbesondere die Frage, welchen Stellenwert er nun wirklich im NS-System einnahm, seien hinreichend geklärt, so irrt er. Robert Wistrich, ein englisch-israelischer Gelehrter, der vor zwanzig Jahren 400 essayistische Biografien unter dem Titel „Wer war wer im Dritten Reich?“ herausgab, ist diesem Irrtum nicht erlegen.

Was fehlt bei Ernst Klee? Zum Beispiel einer der grausamen Folterer und Mörder von Auschwitz, Friedrich Wilhelm Boger. Auslassungen wie diese sind jedoch unvermeidlich und umstandslos zu korrigieren. Gravierender sind die weißen Flecken im Bereich der Künste und der Literatur, wo die Stars der Ufa zur Nazi-Zeit so systematisch ausgespart sind, dass man fast glauben mag, der Regisseur Veit Harlan sei der einzige Zulieferer von Goebbels gewesen. In diesem Bereich ist das bereits erwähnte Lexikon von Wistrich weit instruktiver, wenngleich auch dieser Autor die letzte, gänzlich überraschende Wendung im Fall der Ufa-Stars Zarah Leander, Marika Rökk und Olga Tschechowa – womöglich waren alle drei Nazi-Lieblinge KGB-Spioninnen – nicht erahnen konnte.

Problematisch auch die Behandlung der Antifaschisten und Widerstandskämpfer. Hier scheint ziemlich willkürlich, wer ins Lexikon aufgenommen wurde und wer nicht. Eine sinnvolle Möglichkeit wäre gewesen, auf die Biografie derer einzugehen, die zuerst den Nazismus unterstützen und sich dann zu seinen Gegnern wandelten. Ein solches Prinzip ist bei Klee sogar angelegt, so in den Kurzbiografien von Kurt Gerstein und Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Aber es wird nicht durchgehalten. Wenigstens die wichtigsten Gruppen des Widerstands sollten in künftige Auflagen des Lexikons aufgenommen werden. Augenfällig ist, dass der kommunistische Widerstand fast völlig ausgespart wird. Was umso bedauerlicher ist, als er nach der Beweihräucherung zu DDR-Zeiten im vereinten Deutschland nicht den ihm gebührenden Platz erhalten hat.

Klees großes Lexikon befördert weder Strafbedürfnisse noch Selbstgerechtigkeit. Eher erschrecken wir immer wieder aufs Neue bei der Lektüre. So viele kluge Köpfe haben sich angesichts von Karrierechancen als moralische Idioten erwiesen. De te fabula narratur – dieses Lexikon wurde für unseren Gebrauch verfasst.

Ernst Klee: „Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003, 736 Seiten, 29,90 Euro