der tod war heimlich von RALF SOTSCHECK
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Tante Debbie ist jetzt Witwe. Neulich ist ihr Mann John gestorben, er ist 76 Jahre alt geworden. Dabei hatten alle damit gerechnet, dass Debbie vor ihm sterben würde. Vor zwölf Jahren hatte man bei ihr Brustkrebs diagnostiziert, die linke Brust musste ihr abgenommen werden. „John habe ich natürlich nie etwas davon erzählt“, sagte sie, „er hätte sich bloß lustig über mich gemacht.“ Obwohl beide im selben Bett schliefen, merkte John bis zu seinem Tod nicht, dass seiner Frau eine Brust fehlte.

Trotz der rasanten Veränderungen in Irland in den vergangenen zwanzig Jahren geht es in den ländlichen Schlafzimmer noch immer recht geheimnisvoll zu. Debbie und John Lyons lebten in einem kleinen Dorf in den Midlands. Johns Ahnungslosigkeit über den körperlichen Zustand seiner Frau ist zwar verblüffend, aber keineswegs ungewöhnlich. Im Schlafzimmer einer anderen, mit Debbie und John nicht verwandten Familie Lyons aus Ballyhaunis in der westirischen Grafschaft Mayo, verbarg sich ein noch viel erstaunlicheres Geheimnis.

Mary und Agnes Lyons teilten sich seit mehr als zwanzig Jahren einen kleinen Bungalow mit ihrem Bruder Michael. Die Schwestern verließen das Haus nur selten. Die Nachbarn hatten vor zehn Jahren das letzte Mal ein paar Worte mit ihnen gewechselt. Auch zum Bruder hatten Mary und Agnes wenig Kontakt. Sie schrieben manchmal eine kleine Einkaufsliste auf ein Stück Papier und legten es ihm auf den Küchentisch. Michael hatte seine Schwester Agnes seit Karfreitag 2000, als sie von einer Untersuchung aus dem Krankenhaus kam, nicht mehr gesehen. Er hielt sich meist im Wohnzimmer auf, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Die Schwestern verschanzten sich stets rechtzeitig in ihrem Zimmer.

„Michael hätte niemals freiwillig die Tür eines Zimmers geöffnet, in dem sich eine Frau befand“, sagte der Nachbar Tom Garvey. Er habe sogar immer den Fernseher ausgeschaltet, sobald eine Frau auf dem Bildschirm erschien, behauptete Garvey. Doch dann ist Mary krank geworden, was sie Michael schriftlich mitteilte. Er machte sich ein wenig Sorgen und öffnete zum ersten Mal seit 20 Jahren die Tür zum Zimmer seiner Schwestern, um sich bei Agnes nach Marys Zustand zu erkundigen. Der 70-jährigen Agnes ging es jedoch deutlich schlechter als Mary. Michael fand in ihrem Bett ein Skelett. Er rief geschwind den Arzt. Der erklärte überrascht, dass die Menschen manchmal Krankheiten verschleppen und zu spät zum Arzt gehen, aber so spät habe man ihn noch nie gerufen.

Bei der gerichtlichen Untersuchung des Falles erklärte Mary vorige Woche, sie wisse nicht, wann Agnes gestorben sei. „Früher schrieb sie ständig an alle möglichen Klöster mit der Bitte, eine Messe für sie zu lesen“, sagte Mary. „Irgendwann hörte sie damit auf.“ Vielleicht, weil sie verstorben war? „Sie war schon seit Jahren krank und kam nicht mehr aus dem Bett heraus“, sagte Mary. „Sie wollte keinen Arzt sehen. Stattdessen legte sie sich ein hölzernes Kreuz und religiöse Medaillons auf die Brust.“ Die musste ihr – im Gegensatz zu Tante Debbie – zwar nicht abgenommen werden, aber ansonsten haben die katholischen Utensilien versagt: Agnes war bereits ein Jahr tot, als Michael sie fand.