NIGERIA: LIEBER KINDERLÄHMUNG ALS BESSERWISSEREI
: Islamisten gegen Halbgötter

Es ist auf den ersten Blick unglaublich. Religionsführer meinen, ein international bewährter Impfstoff gegen Kinderlähmung gefährde die Gesundheit – und deswegen bleibt bei der augenblicklichen UN-Impfkampagne zur endgültigen weltweiten Ausrottung der Polio der größte noch verbleibende Ansteckungsherd außen vor. Der Bundesstaat Kano im Norden Nigerias ist heute der wichtigste Verbreiter des Poliovirus und zugleich Speerspitze des Boykotts gegen die Impfung. Selten schienen die Fronten zwischen Obskurantismus und Aufklärung so klar.

Aber der erste Blick reicht eben nicht. Erst vor wenigen Jahren war Kano in Aufruhr, als der US-Pharmakonzern Pfizer heimlich an Kindern Medikamente gegen Hirnhautentzündung testete, die zu schweren Nebenwirkungen bis hin zum Tod führten. Als dann in der Region wirklich Hirnhautentzündung grassierte, boykottierten wütende Eltern das Gesundheitswesen. Daraus entwickelte sich eine allgemeine Ablehnung der selbst ernannten Menschenretter aus Übersee. Kein Wunder: Wie würde man in Deutschland reagieren, wenn plötzlich Ärzte aus Afrika auftauchten und der Bevölkerung zwangsweise Heilmittel verabreichen wollten, deren Sinn nur sie selbst verstehen?

In den meisten Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit ist inzwischen die Einsicht gediehen, dass nur solche Maßnahmen Erfolg haben, die die Betroffenen selbst konzipieren, tragen und durchführen – und bei denen Hilfe Hilfe heißt und nicht Besserwisserei. Nur im medizinischen Bereich greift dieses Prinzip nicht überall. Manche fremden Gesundheitsexperten in Afrika spielen immer noch gerne Halbgötter in Weiß, deren Spritzen und Pillen viel exotischer sind als die vertrauten Heilmittel und deren Arbeit niemand je hinterfragt, weil Tote nicht reden.

Nun hat sich in Nigeria eine kritische Öffentlichkeit zu Wort gemeldet. Dass sie in die Irre führt, enthebt die Betreiber der Impfkampagne nicht der Pflicht, jetzt selbst etwas zu tun, um Vertrauen zu gewinnen. Wer nur Technik anbietet und keine Aufklärung, soll sich nicht wundern, wenn die Betroffenen sich ihres eigenen Verstandes bedienen. DOMINIC JOHNSON