Familienkult

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Nur mühsam taucht man aus der Familie wieder an die Ober-fläche seiner eigenen Gegenwart auf

Familie (lat. Familia), eine durch Abstammung oder Geschlechtsgemeinschaft in näherer oder entfernterer Verbindung stehende Gruppe von Menschen, Tieren oder Pflanzen. Meyers Konversations-Lexikon, 1887

Die älteste Tochter, inzwischen 55, immer schon die Managerin der Familie, machte das Hotel mit den günstigsten Sonderangeboten aus, Abendessen und eine Übernachtung für 30 Euro. Und so versammelte man sich, als der Tag gekommen war, in diesem malerisch abgelegenen Etablissement am Rande der Rhön, um den 85. Geburtstag des Paterfamilias zu feiern, Sohn und Tochter mit Kindern und Kindeskindern, die jüngere Schwester mit ihrem Nachwuchs an Neffen und Nichten, insgesamt 40 Leute, eine kleine Clansversammlung. Niemand wohnte in der Nähe; die einen kamen aus Berlin, andere aus Schottland; Gabriele hatte nach Frankreich geheiratet. Auf die Rhön als Ort der Kulthandlung war man gekommen, weil Vater hier einst beim Arbeitsdienst Mutter kennen gelernt hatte (die vor Jahren an Krebs verstarb).

Eine international verzweigte Familie feiert den 85. Geburtstag des Patriarchen gemeinsam in einem Hotel – unwillkürlich denkt man an Großbourgeoisie. Aber Vater hat sein Geld als Polizeibeamter verdient, wir haben es mit Kleinbürgern zu tun, was sich sogleich an der Kleiderordnung zeigte. Zu dem festlichen Abendessen trug man Jeans, Sweatshirts, Pullover; nur die Franzosen stachen ab, besonders die kleinen Jungs mit ihren hellgrauen Flanellhosen fremdelten.

Was das gute Leben angeht, so folgen die Kleinbürger einem Ideal von informeller Bequemlichkeit und Direktheit. So wenig wie eine Kleiderordnung existierte eine Sitzordnung an der Tafel. Das alte Geburtstagskind saß irgendwie in der Mitte, und darum gruppierten sich die anderen nach Lust und Laune. Selbstverständlich hielt niemand eine Rede voller Klassikerzitate, die das lange Leben des Polizisten als beispielhaft und wohl gelungen würdigte. Da jeder am Buffet sein Essen nach Belieben selber auf den Teller legte und auch selber darüber entschied, wann er noch eine zweite Portion hole (und vielleicht sogar eine dritte), entfiel auch das Ritual des Auftragens, bei dem die Kellner ebenso wie die Gäste einer Choreografie folgen.

Im Zentrum stand gewiss das Essen, die gemeinsame Mahlzeit; wobei das großzügige Buffet einen gewissen Luxus und Überfluss verkörpert, der die Feiernden der Gegenwart dankbar an die schlechten Zeiten denken lässt, die man überstanden hat. Weil er und seine Familie sich das jetzt leisten können, genoss der 85-Jährige damit seinen umfassenden Lebenserfolg. Weder sein Vater noch seine Mutter wurden so alt; ihre Familiengeburtstage sahen weit armseliger aus.

Was im Zentrum dieses Kults steht, wurde jedoch nach der Mahlzeit noch deutlicher. Eine abgestorbene Formel nennt es „geselliges Beisammensein“. Man sitzt miteinander herum und trinkt; keineswegs unmäßig. Man redet ein bisschen mit diesem und jenem, ruft gemeinsame Erinnerungen herauf. Oft werden Witze erzählt, die aber nicht krachen müssen. Manchmal kommt es auch zu Meinungen in politischer Hinsicht, aber dabei ist Schärfe unbedingt zu vermeiden. Genau besehen besteht die Kulthandlung darin, dass die Anwesenden gemeinsam ihre Anwesenheit genießen.

Das Reden liefert dafür nur den Vorwand. Deshalb verläuft es so wenig engagiert, kommt es zu keiner echten Unterhaltung, womöglich Streit, obwohl der französische Schwiegersohn die Politik der USA radikal anders einschätzt als der Jubilar. Was sich unterhalb des Redens gemeinsam fühlen und genießen lässt, das bildet die Hauptsache.

Der Familienkult in der Bundesrepublik ist, wenn ich richtig sehe, wenig erforscht. Alle nehmen ganz selbstverständlich daran teil, wo sich die Gelegenheit bietet; deshalb bleibt der Kult unsichtbar. Hohe Geburtstage eignen sich glänzend; immer wieder bildet das Weihnachtsfest den Kulminationspunkt. Dass es dabei stets um Konsum geht – das Essen, die Geschenke –, pflegt den Kulturkritiker zu irritieren; unnötigerweise. Denn die Familie konsumiert strikt im Rahmen ihres Kults, wie unser Abendessen mit geselligem Beisammensein lehrt.

Man verlässt respektive beendet ein solches Fest eigentümlich erschöpft, wie die bekannten nachweihnachtlichen Depressionen eindrucksvoll lehren. Nur mühsam taucht man aus der Familie, die im Kult ihrer eignen Anwesenheit versunken war, wieder an die Oberfläche seiner eigenen Gegenwart auf. Man existierte für die Dauer des Fests unpersönlich, auf der Ebene der Anthropologie. Man gewinnt einen Eindruck davon, wie spät das Individuum aus der Gesellschaft als Primärprozess heraustrat und wie leicht sie es wieder verschluckt.

Besonders deutlich war das an unserem Jubilar zu studieren, dem Ältesten in der Runde, sowie seinen Kindeskindern, den Kleinen, die auf ihre Speise einhackten und ihren Kakao mit der Vanillesauce verschönten, die der roten Grütze zugedacht war. Rot malte der Familienzusammenhang, seine persönliche Unsterblichkeit, die Bäckchen des Greises und verlieh seinen Bewegungen, seinem Reden – auf das es, wie gesagt, nicht ankommt – eine Beschwingtheit, die ihm im Alltag mit seinen Molesten abgeht. Das Leben selbst, das ihn bald verlassen wird, wie er weiß, brachte sich in den roten Bäckchen und der Beschwingtheit unmittelbar zur Anschauung. Die versammelte Vitalität der Familie beflügelte ihn.

Die Kulthandlung besteht darin, dass die Anwesenden gemeinsam ihre Anwesenheit genießen

Was dagegen an den Kleinen auffiel: der komplette Rückzug der Erziehung. Die Sache mit dem Kakao und der Vanillesauce zog keinerlei Gegenmaßnahmen nach sich, nicht einmal Kopfschütteln oder Stirnhochziehen. Auch die anderen surrealistischen Zusammenstellungen, die Gewürzgurke neben der Pasta, die Mousse au Chocolat neben dem Grünkohl auf ihren Tellern, provozierten keinen Eingriff von Vater oder Tante oder Oma. Heute war alles erlaubt; eine gewisse Seligkeit spiegelte sich in den Blicken, die auf die Kleinen trafen. Denn sie verkörperten ja die Zukunft des Familienmyzels, die Fortdauer seiner Unsterblichkeit. Die schiere Existenz der Kinder übertraf an Bedeutsamkeit bei weitem allen Unfug, den sie trieben.

Man kann nicht sagen, dass Freude die Stimmung eines solchen Familienfestes ausmacht. Früher artete es gern in heftige Streitigkeiten aus; der Alkohol hob die Selbstkontrolle auf, und jeder durfte jedem endlich einmal sagen, was er je schon, die ganze Zeit gegen ihn vorbringen wollte, Kleinkriegshandlungen, die in reuevollen und tränenreichen Versöhnungsmaßnahmen endeten. Doch ließ der innere Druck in den Familien, der solche Ausbrüche provozierte, im Lauf der letzten Jahrzehnte erheblich nach (ein anderes Thema).

Aber auch jetzt herrscht keine Freude. Es ist, wie gesagt, eine Art Abwesenheit, in die die überwältigende Anwesenheit des Familienwesens jeden Einzelnen taucht. Das Essen, das Trinken, das Reden, das freundliche Herumsitzen – als Person ist man vor allem mit Warten beschäftigt, dass die Kulthandlung vorbei ist und man aufbrechen kann, ohne Anstoß zu erregen, ohne das Familienmyzel zu demolieren.

Fotohinweis: Michael Rutschky lebt als Publizist in Berlin