Der Sound aus Gottes Garage

Disco-Visionär, Avantgarde-Cellist, merkwürdiger Heiliger und sich verdichtendes Gerücht: Zwölf Jahre nach seinem Tod versuchen zwei Compilations, den New Yorker Musiker und Produzenten Arthur Russell dem Vergessen zu entreißen

VON TOBIAS RAPP

Manchmal tönt Arthur Russells Musik noch durch das New Yorker East Village. Wenn man in einer Wohnung auf der Avenue D zwischen 7. und 8. Straße am Fenster steht und an einem Sommertag in den Hof hinauslauscht, erhascht man manchmal einen kleinen Fetzen des New Yorker Disco-Sounds der frühen Achtzigerjahre – einer Musik, die in den Neunzigern so ganz und gar vergessen schien.

Manchmal weht ein kleines Melodiefragment herüber: „I wanna see all my friends at once / I will do anything to get a chance to go bang!“ Doch so sehr man sich freut und die Zeilen mitmurmelt: Es ist ein trauriges Vergnügen. Auf der anderen Seite des Hofs steht ein Sterbehospiz für Aidskranke. Auch Arthur Russell ist 1992 an den Folgen von Aids gestorben. Sechs Jahre lang war er HIV-positiv gewesen.

Wie ein Feuersturm muss Aids damals durch die Reihen derer gefegt sein, die das legendäre New Yorker Nachtleben jener Zeit bestritten. Die Legende, jenes wilde Clubland sei allein der Regulierwut des Bürgermeisters Rudolph Giuliani zum Opfer gefallen, beschreibt jedenfalls nur einen Teil der Wahrheit: jenen Teil, auf den man durch seine Abwahl hätte Einfluss nehmen können. Dass das New Yorker Nachtleben heute eine vergleichsweise triste Angelegenheit ist, hat nicht nur mit den verschärften Auflagen zu tun, die Clubbesitzern das Leben vermiesen. Viele derjenigen, die dieses Nachtleben trugen und für die Experimentierfreude standen, die einem auch heute noch aus der Musik jener Tage entgegenleuchtet, sind schlicht gestorben.

Manche sind zu Heiligen aufgestiegen – so wie DJ Larry Levan, um den sich seit seinem Tod ein bizarrer Kult entwickelt hat, mit seinem Club, dem 1987 geschlossenen Paradise Garage, in der Rolle des zerstörten Tempels.

Vor allem in England und Japan leben die Anhänger dieser Sekte, die den Ursprung der DJ-Culture in diese Discothek verlegt haben, mit religiöser Ehrfurcht die Paradise-Garage-Playlisten jener Tage durchschauen und ohne Zögern bereit sind, viel Geld zu zahlen, um das Originalvinyl jener Ära in ihren Besitz zu bekommen.

Doch wie jeder Fan-Fundamentalismus, so hat auch dieser seine guten Seiten. Ohne die archäologische Arbeit dieser Kreise wäre Arthur Russell längst vergessen. Hat er doch – von einem Interview abgesehen, das der britische Musikjournalist David Toop mit ihm 1986 geführt hatte – außer seiner Musik fast keine Spuren hinterlassen. „Er ist einfach in seiner Musik verschwunden“, hieß es in seinem Nachruf in der Village Voice 1992.

Seit britische Wiederveröffentlichungslabels wie Strutt, Nuphonic oder Soul Jazz sich vor einigen Jahren aber daran machten, die Schätze jener Zeit wieder herauszubringen, kommt einem Arthur Russell vor wie ein Gerücht, das sich ständig verdichtete. Mit „The World Of Arthur Russell“ (Soul Jazz/Indigo) und „Calling Out Of Context“ (Audika/Sanctuary/Zomba) sind nun innerhalb eines Monats gleich zwei Compilations erschienen, die sich ausschließlich seiner Musik widmen.

Es dürften nicht die letzten gewesen sein. Denn mit Audika hat sich ein Label gegründet, das nichts anderes tun wird, als Russells Nachlass zugänglich zu machen. Und wie es sich für einen vergessenen Visionär gehört, ist dieses Material nicht nur gehörig zerklüftet, es hat vor allem gehörigen Umfang. Glaubt man den Liner Notes von „Calling Out Of Context“, handelt es sich um nicht weniger als 1.000 Seiten mit Gedichten und Songtexten und 1.000 Bänder mit orchestraler Musik, Live-Performances, aus Country- und Popstücken, Material für ein Album, das nie erschien, und Dutzende von Versionen jener Disco-Tracks, durch die er zu Lebzeiten seinen kurzen Ruhm erlebte. Doch Russell war ein ungewöhnlicher Discoproduzent. Man könnte hinzufügen: Die meiste Zeit seines Lebens war er gar keiner. Eigentlich war Arthur Russell Cellist.

Geboren 1951 in Oskaloosa, Iowa, begann er als Kind, Cello zu spielen, und entfloh der amerikanischen Provinz, so schnell er konnte: 1968 ging er nach San Francisco, um sich dort einer buddhistischen Kommune anzuschließen. Was er dort genau trieb, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. David Toop erzählte er, dort mit John Cage und Laurie Anderson aufgetreten zu sein und indische Musik studiert zu haben. Außerdem soll es eine Schallplatte geben, auf der er Allen Ginsberg begleitet – zusammen mit Bob Dylan.

Ginsberg war dann auch seine erste Anlaufstelle, als er 1973 nach New York zog, in ein East Village, das einem dreißig Jahre später vorkommt wie ein ferner bohemistischer Traum: keine Steckdose im Zimmer, aber ein Avantgarde-Komponist als Mitbewohner. Strom kommt durchs Fenster, von wo aus ein Verlängerungskabel in Ginsbergs Wohnung führt. Russell beginnt in einer Band namens The Flying Hearts zu spielen. Beinahe bekommen sie einen Plattenvertrag, beinahe wird er Mitglied der Talking Heads. Er wird künstlerischer Leiter von The Kitchen, einem Avantgarde-Performance-Ort, wo er mit John Cage auftritt, Philipp Glass kennenlernt und beeindruckt: „Da war dieser Typ, der sich hinsetzen und mit seinem Cello singen konnte, wie es niemand auf dieser Erde es je getan hat oder je wieder tun wird“, wird Glass im Booklet zu „The World Of Arthur Russell“ zitiert. Jahrelang komponiert Russell an einem Stück, das nie aufgeführt wird. „Instrumentals“ heißt es, es soll 48 Stunden lang sein.

All das ist aber nur das Präludium zu jenem Erweckungserlebnis, das Russells Karriere ihren besonderen Dreh geben sollte: 1977 betritt er zum ersten Mal die Gallery – eine Diskothek, in der der DJ Nicky Siano auflegt. Von nun an will er Disco machen. Er überredet Siano, mit ihm eine Platte aufzunehmen. Als „Kiss Me Again“ überraschende 200.000 Stück verkauft, hat er sein Entree geschafft. Labelmacher vertrauen ihm – und den Fähigkeiten der Remixer. Denn die meisten seiner Stücke werden erst im Remix von Larry Levan, Francois Kevorkian oder Walter Gibbons zu Hits.

Nun ist der Disco-Sound der frühen Achtziger nicht mehr die gleiche Musik, die in der Folge des Films „Saturday Night Fever“ erst die Welt eroberte und dann beinahe die Plattenindustrie ruiniert hätte. Es ist eine Musik, die sich nach dem großen Crash von 1979 wieder in den Underground der Clubs zurückzog. Dabei veränderten sich die Instrumentierung und die Arrangements: Die Streicher verschwinden, und das handgespielte Schlagzeug wird mehr und mehr durch Drummachines ersetzt. Die Musik wird durchlässiger – es gibt fließende Übergänge zum New Wave, zum Rap, zum Reggae, zu allen möglichen anderen Stilen. Produzenten fangen an, Geräusche zum Teil der Musik zu machen. Es ist eine Musik, die einige Jahre später mit House eine gültige Form finden wird, die jedoch in nichts mehr an den kulturellen Protektionismus erinnert, der in den Neunzigern die New Yorker House-Szene bestimmen sollte.

Russell schleppt eine wilde Mischung von Musikern zu seinen Sessions: von seinem alten Kumpel David Byrne lässt er sich die Gitarrenspur für „Pop Your Funk“ einspielen und kratzt dazu noisige Riffs auf seinem Cello. Der Avantgarde-Posaunist Peter Zummo spielt das Intro zu „Go Bang!“ und ist auch sonst oft zu hören – auch wenn seine Klanglinien stets so arrangiert sind, dass man immer eine Weile braucht, um sie tatsächlich als von einer Posaune gespielt zu erkennen. Die Percussion-Linien liefert der Jazzdrummer Mustafa Ahmed. Der hatte einige Jahre zuvor noch als Sozialarbeiter einen jugendlichen Gangbanger namens Lance Taylor betreut, der nun unter dem Namen Afrika Bambaataa ein paar Kilometer nördlich mit HipHop gerade eine andere musikalische Revolution startet.

Doch neben Disco-Krachern wie „Is It All Over My Face“ oder „Go Bang!“ oder der großartigen dreizehnminütigen Echokammer-und-Kuhglocken-Sinfonie „The Light Of Miracles“ versteckt sich auf „The World Of Arthur Russell“ auch ein so entrückter Song wie „Keeping It Up“ – ein Stück, das sich anhört, als würde Nick Drake sich aus dem Himmel hinabneigen und Russell für sechs wunderbare Minuten seine Stimme leihen.

Tatsächlich arbeitete Russell parallel an diversen Projekten: Er saß Tag für Tag in seiner Wohnung, schrieb, nahm auf, lief mit einem Walkman durch die Straßen, auf dem er seine eigene Musik hörte, verwarf wieder und stellte neu zusammen. „Calling Out Of Context“ präsentiert einige dieser introvertierten Stücke für Alben, die nie veröffentlicht wurden: Musik, die etwas Unfertiges, Skizzenhaftes hat, die einen verzaubert und doch etwas ratlos zurücklässt. Ein wenig wundert man sich auch über die Veröffentlichungspolitik von Audika: Erst im Sommer soll „World Of Echo“ erscheinen, jenes lange vergriffene Album von 1986.

So lauscht man, wie Russell mit seiner wunderschönen Stimme melancholische Lieder über einen holpernden Beat oder ein einfaches Riff legt: „Got to put my arm around you, I’m in a world of my own“.

Und wahrscheinlich war er das tatsächlich. In einer ganz eigenen Welt, deren Sphären schon von Klängen schwangen, die erst Jahre später Allgemeingut werden sollten. Eine untergegangene Welt, die ob der Offenheit ihrer Grenzen im Nachhinein tatsächlich eine Anmutung vom Paradies hat.