Kombinatorische Schöpfungskraft

Die doppelte Zeichenlogik des Hebräischen und das formalistische Prinzip der modernen Wissenschaftssprache: Die Ausstellung „10 + 5 = Gott. Die Macht der Zeichen“ im Jüdischen Museum Berlin richtet einen medientheoretischen Blick auf das deutsch-jüdische Verhältnis seit dem frühen 19. Jahrhundert

VON KATHARINA TEUTSCH

10 + 5 = Gott! Hinter dieser zunächst so originell wie abwegig erscheinenden Gottesgleichung aus Zahlen und Buchstaben verbirgt sich auf den zweiten Blick eine fesselnde Kulturgeschichte im Spannungsfeld von Religion und Mathematik. Der Fokus dieser Sonderausstellung des Jüdischen Museums in Berlin, „10 + 5 = Gott. Die Macht der Zeichen“, liegt auf den Besonderheiten der deutsch-jüdischen Geschichte im Spiegel von Zeichen und Zahl.

Ein sensibles Thema wird mit einem großen Wort beworben, doch der Titel macht auch Sinn: Das Hebräische ordnet jedem Buchstaben einen Zahlenwert zu. Die Kombination von Zehn und Fünf ist die Kurzform des Gottesnamens (Jod He), doch der ist tabu. Die Zahl Fünfzehn wird deshalb nicht als Zusammenschluss von Zehn und Fünf, sondern als Neun und Sechs notiert. Diese doppelte Zeichenlogik des Hebräischen trifft, wie die Ausstellung zu zeigen bemüht ist, seit 1800 auf das formalistische Prinzip der modernen Wissenschaftssprache, das Buchstaben als Platzhalter für Zahlen einführt. Der Zusammenhang von Zahl, Wissenschaft und Religion in Bezug auf die europäische Moderne sowie die sich in ihr vollziehende jüdische Emanzipation steht nun im Mittelpunkt der voluminösen Schau.

Keine Erkenntnis kommt ohne Symbole aus. Mit der Moderne setzt sich die Einsicht durch, dass die eigentliche Macht der Zeichen nicht in ihrer Autonomie, sondern in der kombinatorischen Schöpfungskraft liegt, die von ihnen ausgeht. Die formale Mathematik, die bereits um 1800 und als wahre Methodenrevolution im frühen 20. Jahrhundert das Reich der Darstellbarkeit überwindet, entwickelt sich umgekehrt proportional zur Dekonstruktion der Metaphysik. Die Relation von Zeichen und nicht deren Essenz wird zum bestimmenden wissenschaftlichen Paradigma.

Hier gelingt der Ausstellung der argumentatorische Winkelzug vom modernen Denken zum hebräischen Alphabet, das keine Vokale schreibt, sondern imaginiert. Wörter sind in ihrer Bedeutung also stark kontextgebunden. Diese Tendenz zur Kombinatorik in der jüdischen Zeichentradition geht eine fruchtbare Verbindung mit dem Diskurs der Wissenschaften ein.

Die Ausstellung ist unterteilt in elf thematische Räume, die sich der „Schule“, der „Küche“, der „Bank“, der „Universität“ oder dem „Spiel“ widmen. Die kugelförmigen Vitrinen mit thematisch versammelten Objekten sind über ein grünes Band, das nie abreißt und sich durch die Ausstellung schlängelt, miteinander verbunden. Ein schöner gestalterischer Effekt, der noch durch das Sammeln von Quartettkarten in jeder Ausstellungsetappe garniert wird. Hier wird alles zusammengehalten und der Ausstellungsbesuch zu einer Entdeckungsreise entlang an Texten, Objekten und interaktiven Gestaltungselementen. Ein riesiger Zahlentisch, der computergenerierte Zahlenketten ausspuckt, darf betastet werden. Es öffnen sich kleine Infofenster auch mit augenzwinkernden Beiträgen, etwa über den Zeichenanteil einer Buchstabensuppe.

Die Stimmung schlägt um beim Betreten des „Spielfelds“. Dort werden Prototypen historischer Gesellschaftsspiele gezeigt: makabre Propagandainstrumente für die Freizeit. Im „Juden raus!“-Spiel erhält der geneigte Spieler ein Judenhütchen, das er zu einem Sammelplatz außerhalb der Stadt bringt. Wer die meisten Juden eingesammelt hat, gewinnt. Dass auch das Monopoly-Spiel die Nazi-Zeit nicht unbeschadet überstand, zeigt ein anderer Kasten. Joseph Goebbels ließ es kurzerhand als „jüdisch-spekulativ“ verbieten.

Die Abteilung „Universität“ widmet sich der Wissenschaft. Es wird gezeigt, wie die Mathematik des späten 19. Jahrhunderts mit Gleichungen hantiert, die jenseits jeder geometrischen Anschaulichkeit liegen. Hier liegt die Wurzel eines mathematischen Grundlagenstreits, der bis tief ins 20. Jahrhundert wirkt. Die beteiligten Parteien stritten über die Notwendigkeit, die Mathematik an die modellierende Kraft der Vorstellung zu knüpfen. Die formale, abstrakte Mathematik machte wissenschaftsgeschichtlich das Rennen. Es ist die Zeit des „Weierstraß’schen Monsters“, einer Rechnung mit unendlichen Größen. Göttingen war um 1900 Weltzentrum der Mathematik. Viele jüdische Professoren lehrten und forschten an der Universität, bis das Institut, von Juden „gesäubert“, praktisch aufhörte zu existieren.

Ein ästhetisches Highlight der Ausstellung ist die originelle Idee des Mathematikers Felix Klein, der seiner Braut 1875 ein nach mathematischen Mustern besticktes Kleid schenkte. Als Nachbildung bekleidet es im wahrsten Wortsinn einen erhabenen Platz im Raum der „Universität“.

Doch der gestalterische Mut, solche ästhetischen Schmankerln in die unmittelbare Nachbarschaft der Dokumente deutsch-jüdischer Abgründe zu stellen, wirkt sich bisweilen eben doch als Schwäche des Ausstellungskonzepts aus. Manchmal entsteht bei aller Vielschichtigkeit der diffuse Eindruck eines Mangels. Oft kommen die tatsächlich hoch spannenden Einschnitte in komplexe Bereiche zu kurz oder werden von einem nächsten „Ereignis“ der Ausstellung überblendet. Zwischen dem „Buch des Lebens“, das in 3,2 Millionen Buchstaben Teile des menschlichen Genoms entschlüsselt (übrigens aus dem Privatbesitz des Bundeskanzlers) bis zur V 2-Rakete, der von KZ-Häftlingen erzwungenermaßen mitberechneten Vergeltungswaffe der Nazis, liegen Welten und nicht Vitrinen. Es empfiehlt sich ein ergänzender Blick in den ausführlichen Katalog, um dieses gelegentliche Manko an Tiefe zu kompensieren.

Bis 27. Juni, Jüdisches Museum Berlin, Katalog 24,90 €, (Abb.: Katalog)