„Und dann wird Merkel Kanzlerin“

Die Krise von Rot-Grün ist offensichtlich, die Unterstützung für ihre Reformpolitik erodiert. Die Deutschen wollen ihre Ruhe. Erleben wir nun die Renaissance alter Familienwerte? Werden wir alle konservativ, wie Heinz Bude, Soziologe am Hamburger Institut für Sozialforschung, behauptet? Ein Gespräch über linke Horrorszenarien und die Nöte einer visionären Sozialpolitik

INTERVIEW PETER UNFRIED UND JAN FEDDERSEN

taz.mag: Herr Bude, wir haben Angst. Werden wir tatsächlich alle konservativ, wie Sie neulich in einem Vortrag prophezeit haben?

Heinz Bude: Ich glaube wirklich, es gibt bei uns eine gesamtgesellschaftliche Tendenz, die für viele, die Rot-Grün an die Regierung gewählt haben, noch schwer verständlich ist.

Was müssen wir verstehen?

Dass viele Menschen die Familie, familienähnliche Formen des Zusammenlebens und des Sichzusammentuns als eine Art Stabilitätsperspektive für sich neu entdecken.

Und das soll jetzt schon konservativ sein?

Ohne Frage. Man traut dem Sozialstaat nicht mehr – und man setzt nicht mehr unbedingt auf finanzielle Anlagestrategien, sondern glaubt an die Familie und familienartige Unterstützungsnetzwerke. In gewisser Weise hat Friedrich Engels wieder Recht: Die Familie ist die Keimzelle des Staates.

Woher rührt dieser Rückzug in familiäre Verhältnisse?

Sie haben den ungeheuren Vorteil, dass sie Geld und Moral in einer unentwirrbaren, unlösbaren Mischung enthalten. Dafür gibt es keine bessere Institution als die Familie.

Soll das etwa unseren verloren gehenden Glauben an die Kuscheligkeit des Sozialstaates ersetzen?

So ist es. Kinder sind die einzig unkündbaren Beziehungen – und das wird im linksliberalen, im rot-grünen Milieu inzwischen auch realisiert. Die Leute beginnen, ein positives Bewusstsein für Beziehungen zu bekommen, die nicht dem Belieben des Einzelnen unterliegen. Dahinter steckt die Ermüdung von dem romantischen Modell der Liebe. Die reine Liebe ist ein ziemlich unverlässlicher Garant für persönliche Beziehungen. Deshalb wollen die Leute heiraten. Und zwar nicht allein aus Liebe.

Weshalb denn sonst?

Weil sie spüren, dass die Liebe eine Form braucht, die die zerbrechlichen Beziehungen der Liebenden überdauern kann.

Aber wie denn?

Es geht um ein Gefühl von Verpflichtung und eine Idee des Halts. Das ist in den Fantasien der allermeisten Menschen die Idee von Familie. Schließlich geht die Welt über einen hinaus. Man will nicht immer nur von sich aus denken, sondern sich durch einen anderen festlegen lassen. Das ist eine konservative Tendenz in der Gesellschaft.

Ist die Idee der Familie für Sie a priori konservativ?

Natürlich. Die drei klassischen konservativen Grundwerte lauten ja nicht umsonst: die Familie, das Vaterland und der Glaube – und der Wert der Familie ist uns davon am nächsten.

Wie muss man sich Ihre Idee von Familie vorstellen?

Nicht in der Art, wie man sie seit Ende der Sechzigerjahre in unseren Kreisen verstanden – und kritisiert hat. Familie ist eben nichts, was man von sich abstreifen kann. Die Frage nach dem Ursprung geht über die Familie: Woher komme ich, was hat mich warum in frühem Alter zu dem gemacht, was ich heute auch bin?

Das sind Selbstbefragungen …

… die eine neue Ernsthaftigkeit in der Familienfrage signalisieren. Man will nicht nur wählen, sondern auch gewählt werden. Oder schon gewählt sein. Im Grunde ist die Familie eine community of choice and faith – aus Wahl wird Schicksal.

Und das suchen die Leute?

Genau. Man will, dass aus Wahl Schicksal wird.

Sie möchten nicht mehr alles ständig selbst neu bestimmen?

So ist es: Die Idee, sein Leben stets neu erfinden zu können, bereitet ja nicht nur Vergnügen. Viele verstehen das nicht nur als Möglichkeit, sondern auch als Zwang.

Heißt das, dass das rot-grüne Milieu allmählich die Freiheit zu anderen Lebensentwürfen auch als kalt …

… und einsam machend empfindet: Ja, so ist es. Und das würde ich das wichtigste private Thema in unseren Kreisen bezeichnen.

Man möchte es gern ein bisschen gemütlicher?

Auch das. Aber die Gesellschaft wird auch noch mal durchdacht – und zwar von der Familie aus. Wenn wir einen anspruchsvollen Begriff von Gesellschaft haben, kommen wir nicht darum herum, über die Frage sozialer Bindungen nachzudenken. Im Vorstellungsvermögen der Einzelnen sind diese sozialen Bindungen zunächst irgendwie familienähnlich.

Die Mann-Frau-Situation …

Es gibt eine andere Idee von Verantwortung. Die Anderthalb-Personen-Einkommensstruktur des Haushaltes ist Normalität. Es geht nicht mehr mit einem Gehalt. Und die Mädels glauben nicht mehr, das die Männer das alleine machen müssen. Außerdem sucht man ja jetzt auch Sphären der Verpflichtungen. Da bietet sich wieder dieser Nahbereich des Familiären an. Und darüber lässt sich auch ein anderes politisches Vorstellungsvermögen über Bindungen entwickeln.

Das heißt?

Wollen wir, zum Beispiel, dass die berühmten staatlichen Transferzahlungen vor allem an Individuen gehen, oder wollen wir damit eine Ökologie von Institutionen schaffen, die die Familie unterstützen. Also: Kitas etwa oder Ganztagsschulen. Wenn man dies bejaht, hätte dies natürlich die Folge, dass die Sozialhilfe reduziert werden muss. Das ist überhaupt keine Frage: Wenn wir die Ökologie der Kinderbetreuung verbessern bei der gegenwärtigen staatlichen Finanzlage, führt das zwangsläufig zur Reduktion von Individualtransfers, das geht überhaupt nicht anders. Also unser Denken über die Bedeutung der Familie hat durchaus harte Konsequenzen.

Worin liegt die Veränderung?

Ich glaube, es gibt immer mehr Leute, die sagen, man muss diese harten Konsequenzen ziehen.

Leute in linken Kreisen?

In unseren Kreisen. Sie sind dieser rein optionspolitischen Idee irgendwie müde geworden.

Sie sagen: Scheiß auf political correctness? Sie wollen, dass gehandelt wird? Von konservativen Politikern?

Ja, und zwar egal, ob ich es möchte oder nicht. Sie sehen das an Christian Wulff. Der niedersächsische Ministerpräsident hat ja einen unglaublichen Aufstieg gemacht. Wulff ist der Konservative, der sagt, ich höre mir die Probleme an, bedenke sie und löse sie ganz ruhig. Das wirkt viel beruhigender, viel weniger nervös auf die Menschen als das, was sein Vorgänger Sigmar Gabriel veranstaltet hat.

Was stört Sie an dem?

An ihm persönlich nichts. Aber als Beobachter von Gesellschaft sehe ich: Dem ist schon in der Körperhaltung Unruhe eigen. Das kann man bei „Christiansen“ immer gut sehen. Das mochten klassisch-konservative Wähler noch nie und linksliberale nun auch nicht mehr.

Und Roland Koch? Nicht gerade der Typus des beruhigenden Konservativen. Oder wird aus ihm schon deshalb nichts, weil ihm zu viel Akne blühte?

Gewiss, zu viel Akne, klar. Aber vor allem zu viel Lafontaine. Koch ist der Lafontaine der Union. Und Angela Merkel ist die Schröderin, die auf die Neue Mitte schielt. Sie hat nämlich ein ungeheures Talent, sie ist in der Lage, die konservativen Vierzigjährigen ein bisschen an sich zu binden.

Woran lesen Sie das ab?

Also ich will jetzt nicht über Journalisten reden, aber es gibt ein Blatt, das in der Hinsicht sehr geschickt im Augenblick agiert. Das ist die Zeit. Da können Sie das ablesen. Dieses Milieu ist offen für Angela Merkel. Und sie ist offen für die Deutungssender dieses Milieus. Die sind aber nicht offen für Koch.

Daraus folgt?

Ich will nur sagen, dass wir uns das klar machen müssen: Angela Merkel wird dann die Bundeskanzlerin sein.

Es wird doch heute kein normaler Mensch zugeben, dass er 2006 Angela Merkel und CDU wählt.

Nein, es geht ja um Akzeptanz. Die Leute fangen an, sich mit ihr anzufreunden. Und ich versuche, dieses langsame Akzeptanzspiel zu verfolgen. Das ist im Augenblick im Gange.

Warum Merkel?

Weil sie im Grunde das Volksparteimodell der CDU noch mal wieder verkörpert. Man will eine Volkspartei. Koch ist nicht Volkspartei. Der kommt aus diesem Rechtsmilieu in Hessen, der ist nicht akzeptabel für Menschen jenseits der Union. Und auch ein klassischer CDU-Wähler will das Gemeinwesen verkörpert sehen.

Koch ist in Hessen nicht unpopulär.

Aber über dieses Bundesland hinaus provoziert er Ablehnung. Bundesweit würde man ihn nicht über den Mainstream der Union hinaus respektieren. Angela Merkel ist die Einzige in ihrer Partei, der man die Kraft zur Integration abnimmt.

Geht es nie um Programmatisches, sondern immer nur um Haltung?

Programme sind kompliziert und, was die beiden großen Parteien angeht, auch nicht so unterschiedlich. Deutsche wollen einen Kanzler und gewiss bald eine Kanzlerin, die nicht spaltet. Es gibt im Übrigen noch ein großes politisches Talent in der CDU – und das ist Friedrich Merz.

Der redet zu kompliziert.

Wahrscheinlich, weil er zu klug ist.

Herr Bude, Herr Bude, was kommt da auf uns zu?

Auf uns? Auf Sie? Auf die taz? Was für eine rhetorische Figur …

was missbehagt Ihnen?

Diese für die taz notorische Abgrenzung zu der „politischen Klasse“. Wenn Leute, die früher eine maoistische Splittergruppe geführt haben, heute einen bezahlten Beraterposten im Außenministerium haben, dann kann man doch nicht mehr von „denen da“ reden.

Die sind wir? Wir sind die?

Nein: Wir sind es auch. Dieses Gefühl hat sich nie eingestellt. Und das ist so ein Punkt, der eine Chance bietet, wenn jetzt eine CDU-geführte Regierung käme. Dann könnte man sich erst einmal zurückziehen. Und dann wird ein harter Aussortierungsprozess im linken Spektrum stattfinden. Wer igelt sich ein? Und wer bereitet dann das nächste Ding vor? Das wird dann ein ganz harter Prozess. Richtig mit Hauen und Stechen. Auch intellektuell.

Wie kommt es, dass man die rot-grünen Figuren so schnell satt hatte?

Na, wenn wir von Joschka Fischer sprechen wollen: Fischer geht uns auf die Nerven mit seinem Gefühl historischer Bedeutung. Da wird zu viel nach hinten gedeutet und zu wenig nach vorne gelebt.

Warum?

Weil das immer noch die Idee ist, dass Zukunft nur eine bestimmte Art der Verlängerung der Vergangenheit ist. Und dieses Verlängerungsmodell von Vergangenheit, das Fischer repräsentiert, spiegelt nur eine bestimmte Vergangenheit. Davon haben wir genug.

Selbst innerhalb der Grünen scheint ein Gefühl des Verdrusses aufzukeimen: Man will sich vom Außenminister lösen.

Erstaunlich, nicht wahr? Es gibt nicht nur dort ein Ruhe-, sondern auch ein Abkopplungsbedürfnis. Weil es nicht mehr ehrlich ist, weil es übertrieben wirkt. Und weil sein Sound die Probleme, die wir haben, nicht mal anklingen lässt. Und genau das haben, glaube ich, manche kapiert im grün-alternativen Milieu. Aber es gibt bei den Grünen noch keine neue Figur, die das Neue repräsentiert.

Gibt es für diese Problemlagen jemand in der SPD?

Zunächst hoffe ich natürlich auf die Sozialdemokratie. Meine ganzen Interventionen haben keinen anderen Sinn, als dass die sich noch mal besinnen. Aber ich muss gleichzeitig realistischerweise sagen, ich glaube es nicht.

Sie glauben nicht mehr an die SPD?

Ich habe vor zwei Jahren gesagt, der eigentlich Schuldige an der Misere der SPD ist Franz Müntefering, weil der alles abblockt. Mittlerweile ist er ja der Motor des Reformprozesses, das ist ja auch eine eigentümliche Entwicklung.

Weil er auch weiß, wie der Ruhrpott funktioniert.

Klar. Und dazu muss man sagen, er hat sich als extrem lernfähig erwiesen.

Herr Bude, was wird denn nun aus der Generation der Vierzigjährigen, die nach ihrer Einschätzung die Verantwortung übernehmen sollte. Wird sie übergangen und abgewickelt?

Nein, nein, ich muss Ihnen leider gestehen, die sind am Ruder. Nur in der CDU. Meine Generation bestimmt im Augenblick die Union. Merkel, Merz, Koch.

Sind sie die Besten, die die Generation der Vierzig- bis Fünfzigjährigen zu bieten haben?

Sie brauchen keine Angst vor Kontaktschuld zu haben. Ich wette, Sie würden sich mit Friedrich Merz ganz interessant über Kinder unterhalten können. Der hat nämlich welche – und wie alle wird er sich wohl ständig Gedanken über Erziehung und Pubertät machen.

Tatsächlich?

Selbstverständlich. Ich glaube, mit Joschka Fischer ginge das nicht so gut.

Ist das eine Altersfrage?

Nein, nein, es ist ein Prozess des Wechsels von Haltungen. Diese Leute sind dadurch charakterisiert, dass sie nicht mehr dieses Bedeutungsproblem von Fischer haben. Und trotzdem einen Begriff von Verantwortung des Ganzen.

Tatsächlich?

Natürlich haben die das.

Man muss keine Angst vor denen haben …

Ach was …

dass die unsere ganzen bürgerlichen Freiheiten beschneiden?

Da ist überhaupt kein Denken dran. Sie werden natürlich eine andere Sozialpolitik machen, die bestimmte soziale Gruppen privilegieren und andere beschneiden wird. Das schon. Aber das wäre kein sozialpolitischer Kahlschlag.

Gibt es bei den linken Politikern der nächsten Generation niemand, der dagegenhalten kann?

Hmm.

Leute wie Katrin Göring-Eckardt …

… die ist gar nicht so schlecht. Es war leider Gottes so, dass sie bei ihren ersten Einlassungen zum Ehegattensplitting gezeigt hat, dass sie wohl noch nie so richtig über die Familie als eine Realität der Gesellschaft nachgedacht hat. Aber jetzt macht sie sich.

Und in der SPD?

In der SPD ist eigentlich … nüscht.

Herr Bude, kommen wir mit dem ganzen Besinnen auf Familie auch vorwärts?

Ja, natürlich. Wir sind doch dabei, eine Archäologie der Verantwortung zu entwickeln.

Was soll uns dieser Begriff sagen?

Wenn ich es genau nehme, heißt das: Wir sind dabei, uns vom Neoliberalismus wegzuentwickeln. Leben heißt nicht nur, den eigenen Vorteil zu suchen.

Das scheint eine der Leerstellen der rot-grünen Regierung zu sein.

Und dafür braucht es treffende Sprache und eine bewegende Idee. Nehmen wir unsere Einwanderungsgesellschaft: Es gibt kein Deutschland ohne Türken mehr. Das steht fest, das weiß jeder, das will keiner ändern.

Auch die Union nicht?

Nein, keinesfalls. CDU/CSU waren immer stark in der Anerkennung des Faktischen. Die Frage ist nur, wie wir dann die realen Probleme bezeichnen, die gelöst werden müssen, auch wenn wir wissen, dass unsere Gesellschaft nicht kaputtgeht.

Auch nicht, wenn der Sozialstaat abgewrackt wird?

Nein, nein, der ist kein Wrack und wird auch keines werden. Die linke Seite muss nur sagen, was sie unter Eigenverantwortung und Selbstzurechnung verstehen will. Es wird nicht mehr ausreichen, nur „Der Sozialstaat stirbt“ zu rufen. Man muss sagen können, wer für wen aufkommen soll. Linke Politik muss sich heute eine Paradoxie zumuten: Sie muss eine Politik für Starke wie für Schwache machen können.

Keine gute Diagnose über die Linken. Woher rührt sie?

Linke haben in den letzten 25 Jahren meist nur Perspektivendiskussionen geführt: Max Weber gegen Karl Marx. Foucault gegen Habermas. Theweleit gegen Sloterdijk. Was weiß ich. Aber die Alltagsmoral, die Ethik fürs Kleine wurde vergessen. Dass es darauf aber am Ende ankommt, daran haben wir uns voriges Jahr zu Adornos 100. Geburtstag wieder erinnert – an einen existenziellen Begriff von Philosophie, die die Frage stellt, wie zu leben sei.

Wofür plädieren Sie?

Erst einmal für richtige Erzählungen. Die müssen nicht immer erbaulich sein, wie die große Multikulti-Erzählung, die lange Zeit so getan hat, dass aus Differenz immer Einheit wird.

Mögen Sie uns das bitte erläutern?

Differenz ist manchmal, ja oft schwer zu ertragen. Toleranz hat Kosten. Und diese Kostenseite hat zum Beispiel die Niederländer in ziemliche Rage gebracht. Das holländische Modell von Multikulti heißt heute Kooperation und Kontrolle. Das ist jetzt gerade ziemlich unangenehm. Aber wir sollten nicht so tun, als ob wir nicht auch irgendwann mit Problemen wie in Rotterdam zu tun haben werden.

Kommen wir zurück zu Ihrem Plädoyer?

Das Thema Multikulti zeigt ganz gut, was heute eine Politik des Respekts sein könnte. Dass man nämlich von einer Symmetrie der Beziehungen ausgeht, das heißt natürlich, dass nicht immer nur die eine Seite Schuld hat. Für eine Einübung einer Mentalität des Respekts braucht man auch Institutionen. Wieder die Kindergärten, Schulen und selbstredend auch die Universitäten.

Plädieren Sie bitte jenseits von Multikulti.

Es geht ums Konkrete. Ich plädiere für eine Ethik der Situation und eine Politik der Teilnahme. Eben keine Ethik aus Stellvertreterpositionen und keine Politik aus Beobachterperspektive.

Worin besteht der zivilisatorische Fortschritt gegenüber 1968, wenn ich mich jetzt wieder mit meiner Kleinfamilie zusammengefunden habe, mit den anderthalb Gehältern und so weiter?

Der Fortschritt ist dann erreicht, wenn daraus eine Haltung wächst. Wenn ich sage, was im Kindergarten passiert, was in der Schule passiert, was im Stadtteil passiert, ist das auch meine Sache als Bürger dieser Gesellschaft. Das ist ein Begriff von Verantwortung, der nicht gegen irgendwelche Gegner gerichtet ist. Aber der enthält eine persönliche Version des guten Lebens der gerechten Gesellschaft.

Das ist uns noch zu theoretisch.

Ich meinte: Wir sollten die Augen offen halten. Nehmen Sie die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft aus dem Jahre 1999. Roland Koch hatte eine böse Kampagne losgetreten, und das linke Lager war nicht mehr in der Lage, über die Fallen dieses Konstrukts des Doppelpassangebots zu reden. Man war gegen eine vermutete Gesinnung im Volk und hat sich nicht mehr gefragt, wofür man selbst eigentlich einstehen würde. Ich habe Kollegen gefragt, und die sagten immer nur, nee, nee, wir sind gegen Koch und seine Kampagne. Und wenn ich zurückgefragt habe, seid ihr für den Doppelpass, dann haben sie auch wieder Bedenken gehabt. In gewisser Weise brauchte die Situation auch eine Lösung.

Und heute?

Im Nachhinein würde ich sagen, die Regelung, die wir jetzt haben, ist besser als die alte. Und zwar dank Koch. Wir alle sind untergründig ganz froh, dass aus einer reinen Wahl- eine Verpflichtungsregelung geworden ist. So wenig wie für sich selbst kann man für andere immer alles offen halten. Wenn man immer in Optionen denkt, kommt daraus schnell ein rein instrumentelles Verhältnis gegenüber der Gesellschaft, nicht nur der deutschen. Das war ja damals das eigentliche Problem. Und das hat Roland Koch gesehen oder gefühlt.

Also: Die Linke beschäftigt sich künftig mit der Kita – und Merkel und Koch mit dem Land?

Nein, nein. Das Problem liegt ganz woanders. Wir stehen nicht jenseits von rechts und links. Das war der große Irrtum dieser ganzen Debatte um die Globalisierung. Wir müssen nur sagen, was rechts und links heute bedeutet.

Wissen Sie es?

Das können wir nicht mehr in den Bahnen der alten linken Selbstverständigungsart machen. Auch die Linke muss sich zur Gesellschaft hin öffnen. Und ich im Übrigen mit jeder und jedem reden – natürlich auch mit konservativen Bundestagsabgeordneten. Wie mit Attac-Freunden. Ich denke überhaupt nicht daran, meine Einflussmöglichkeiten fallen zu lassen. Ich mache auch dann mit, wenn meine Generation von rechts an die Macht kommt. Alles andere wäre ja absurd.

Was treibt Sie an?

Ich bin ein politischer Mensch. Der für die Welt Verpflichtung empfindet, in der er sich befindet. Deshalb lassen mich sozialpolitische Begründungen des Wohlfahrtsstaates nicht kalt.

Was bedeutet das?

Der deutsche Sozialstaat war seit Bismarcks Zeiten auf Integration und nicht auf allgemeine Anrechte bezogen. Wenn, wie ich glaube, die gesellschaftliche Integration in Deutschland nicht mehr gefährdet ist, müssen wir uns darüber unterhalten, welche Anrechte wir unter allgemeinen Gesichtspunkten für gerechtfertigt halten und welche wir unter finanziellem Druck auch wirklich einlösen können.

Was ist daran links?

Links ist jedenfalls nicht, wohlfeile Positionen zu haben, denen moralisch gereinigte Überzeugungen unterliegen. Neulich war ich bei einer Veranstaltung auf dem Podium und sagte, was ich zu sagen hatte. Da ging es aber rund. Da sind Leute aufgestanden und haben gefragt, ob ich vielleicht Amerika wollte. Da habe ich gesagt, nein, ich will überhaupt nicht den Wohlfahrtsstaat abschaffen, ich will ihn aber anders.

Sie wurden vermutlich bezichtigt, nicht mehr „links“ zu sein?

Ja.

Was haben Sie geantwortet?

Erstens lasse ich mir nicht von anderen vorschreiben, was links ist und was nicht. Außerdem habe ich gesagt: Sie müssen nicht glauben, dass ich die Tradition des linken Denkens nicht kenne. Man darf sich nicht die Beweislast aufdrücken lassen. Und man muss zurückfragen: Wieso bist du der Meinung, dass der Wohlfahrtsstaat nur deshalb begründet ist, weil soziale Integration gefährdet ist? Was hast du eigentlich für einen Begriff von Freiheit?

Ist Ihre Verantwortung schon damit erledigt, dass Sie einfach sagen, okay, wir brauchen ein anderes Verhältnis von Eigenverantwortung und vom Sozialstaat?

Dass wir es brauchen, steht schon finanziell außer Frage. Man muss ja ehrlich sagen: Es gibt doch immer Verlierergruppen. Aber, wie es manche Linke tun, damit zu drohen, dass man es sonst mit rechtspopulistischen Erregungen zu tun bekommt, ist fatal: Ich bin der Meinung, dass Moral sich erst dann als Moral zeigt, wenn man sieht, dass sie auch Kosten hat. Wenn man eine blitzblanke Lösung hat, dann ist man meiner Ansicht nach nicht moralisch. Moral beginnt dann, wenn man eine Entscheidung treffen muss, die jemanden etwas kostet.

Ist Kanzler Schröder etwa auch moralisch?

Schröder ist in letzter Zeit moralisch, das ist ja das Frappierende im Augenblick. Er ist moralisch, weil er sieht, dass er mit dem, was er tut, scheitern kann. Alles, was er jetzt macht, auch sein Rücktritt vom Parteivorsitz, ist motiviert durch die Möglichkeit des Scheiterns.

Ist das pragmatisch oder eine Haltung?

Eine Haltung. Er hat zum ersten Mal, glaube ich, deutlich gemacht, dass er auch eine tragische Figur sein kann, indem er mit einem richtigen Programm scheitert. Schröder wollte nie scheitern.

Was hat sich an ihm geändert?

Er hat losgelassen von der Idee, dass er auf alle Fälle geliebt und in geliebter Weise erfolgreich sein kann.

Womöglich hat er sich aufgegeben.

Nein, überhaupt nicht, der kämpft doch. Aber er weiß, wenn ich das in meinem, dem sozialdemokratischen Milieu nicht hinkriege, dann scheitere ich. Der erste Wahlsieg ist ihm ja zugefallen, beim zweiten hat er mit dem Bauch das Richtige getan. Jetzt kommt’s drauf an.

Worauf?

Jetzt kommt seine echte Prüfung: ob er diese Nichtpopularität durchhält. Ich habe den Eindruck, er ist fest entschlossen, durchzuhalten.

PETER UNFRIED, Jahrgang 1963, ist stellvertretender taz-Chefredakteur und fährt morgens zwei Kinder in eine prima Kita; JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, taz.mag-Redakteur, ist verantwortungsvoll und kinderlos Single