Schnee, der auf Atolle fiel

Die Zündung der „Bravo“-Bombe war der größte oberirdische US-Atomtest. Der Fallout machte Tausende zu Testpersonen

VON SVEN HANSEN

Überall auf den Marshallinseln werden an diesem Morgen die Kirchenglocken läuten und an die Folgen der vor 50 Jahren auf dem Bikini-Atoll gezündeten Wasserstoffbombe „Bravo“ erinnern. Es war die größte je von den USA initiierte oberirdische Nuklearexplosion – 1.000-fach stärker als die Hiroshima-Bombe. Gäste aus Japan, den USA und dem Pazifik werden heute gemeinsam mit lokalen Strahlenopfern der Folgen des Atomtests gedenken.

Die „Bravo“-Bombe, die zweieinhalbmal stärker als vorausberechnet war, riss einen 76 Meter tiefen Krater mit zwei Kilometern Durchmesser in die Atollinsel Nam. Millionen Tonnen von Gestein, Korallen und Sand wurden bis zu 30 Kilometer hoch geschleudert und regneten Stunden später als radioaktive Asche auf die Bewohner östlich gelegener Atolle, auf 25 Mitarbeiter einer US-Wetterstation und einen japanischen Fischkutter nieder.

Auf den betroffenen Inseln spielten Kinder in dem Pulver, schmierten es sich auf Arme und Beine. Sie hielten es für Schnee, von dem die Missionare erzählt hatten. Dann begann die Haut zu jucken, bildeten sich Blasen, und es schmerzte fürchterlich. Der Kutter brachte seine verseuchte Fracht nach Japan und löste dort Panik aus.

Die Wetterstation hatte rechtzeitig gewarnt, dass der Wind gedreht hatte. Dennoch wurde die Bombe gezündet. „Bravo“ wurde so auch zum Verstrahlungstest – vorsätzlich, wie inzwischen freigegebene Akten nahe legen. Denn anders als die 166 Bewohner von Bikini waren Hunderte auf östlich gelegenen Atollen weder evakuiert noch gewarnt worden (siehe Interview). So wurden die Menschen des 180 Kilometer entfernten Rongelap-Atolls unfreiwillig zu Testpersonen für Strahlenkrankheiten. Sie lieferten US-Militärs fortan wertvolle Daten. Ein Bericht der US-Atombehörde von 1956 spricht denn auch von einer „idealen Situation, um genetische Studien zu betreiben“.

Dies wiederholte sich, als 1957 die Rückkehr auf das nach dem „Bravo“-Test geräumte Rongelap gestattet wurde. Es war nie dekontaminiert worden. Fortan verglichen US-Wissenschaftler die Daten derjenigen, die vom Fallout betroffen waren mit jenen, die sich zum Zeitpunkt der „Bravo“-Detonation außerhalb der Gefahrenzone befanden. Schon nach wenigen Jahren wiesen beide Gruppen einen ähnlichen Mangel an weißen Blutkörperchen im Knochenmark auf und litten unter den gleichen Krebskrankheiten.

Doch erst 1978 wurde den Rongelapesen verboten, die Früchte ihres Atolls zu essen. Die Nordinseln von Rongelap wurden gesperrt. Vergeblich baten die Menschen ab 1979 um ihre erneute Evakuierung. Erst 1985 wurden sie vom Greenpeace-Schiff „Rainbow Warrior“ abgeholt, kurz bevor es in Auckland vom französischen Geheimdienst versenkt wurde. Auf den verstrahlten Inseln hatte inzwischen ein dritter Test begonnen: der bislang nur wenig erfolgreiche Versuch der Dekontaminierung.

Die Atomtests im Pazifik führten nicht nur dort zu Strahlenschäden. Wie der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, Sebastian Pflugbeil, am Samstag auf einer Konferenz des Pazifik-Netzwerks in Berlin erklärte, war die erhöhte Strahlenbelastung durch die weltweit vielen Atomtests jener Jahre auch in Europa messbar. Pflugbeil stellte die These auf, dass wegen der erhöhten Belastung allein in der Bundesrepublik zwischen 1955 und 1993 insgesamt 110.000 Babys tot geboren wurden oder nach wenigen Tagen starben. Die Zahl der Atomtestopfer weltweit bezifferte er auf einen zweistelligen Millionenbetrag, wobei er einräumte, beide Zahlen nicht zweifelsfrei beweisen zu können.

Auch nach dem Ende der Atomtests kamen die Marshallinseln nicht zur Ruhe. Mit der Abtretung militärischer Hoheitsrechte an die USA räumten sie dem Pentagon für 30 Jahre umfangreiche Testmöglichkeiten ein. Zuletzt wurden hier bei Versuchen zur Nationalen Raketenabwehr (NMD) so genannte Killvehicles gestartet. Inzwischen sind die wirtschaftlich schwachen Inseln von US-Militärprogrammen abhängig. Zwar mussten die USA 1987 einen Entschädigungsfonds von insgesamt 150 Millionen einrichten. Doch weitere Forderungen, die sich aufgrund neuer Erkenntnisse ergaben, konnte Washington bisher abblocken.