„Das ist der Weg in den Überwachungsstaat“, sagt Gerhart Baum

Karlsruhe hat den großen Lauschangriff kritisch beurteilt – doch Bürgerrechte haben derzeit politisch keine Konjunktur

taz: Herr Baum, das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen vorgestern in Sachen großer Lauschangriff Recht gegeben und die juristischen Hürden für den Lauschangriff wesentlich höher gehängt. Ist das aus Sicht der Bürgerrechte ein Erfolg?

Gerhart Baum: Ja, es ist ein wegweisendes Urteil. Und ich kann dem Bundesdatenschutzbeauftragten nur zustimmen, der nach der Urteilsverkündung gesagt hat, dass dies das wichtigste Urteil seit dem so genannten Volkszählungsurteil Mitte der 80er-Jahre ist. Damals hat das Verfassungsgericht dem Bürger ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung zuerkannt.

Wird das Urteil über den Lauschangriff hinaus eine Auswirkung haben – etwa bei der Telefonüberwachung?

Ja, das hoffe ich. Denn wir haben seit Jahren eine verheerende Entwicklung. Wir erleben einen permanenten Abbau der Bürgerrechte, wir erleben ein ausuferndes Sicherheitsdenken. Sehr viele gänzlich unverdächtige Personen werden in staatliche Überwachungsmaßnahmen einbezogen. Wir sind in der Tat auf dem Weg zu einem Überwachungsstaat. Ich sehe daher das Urteil als Aufruf zu einer Trendwende.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil aber auch explizit anerkannt, dass es den Lauschangriff geben darf.

Ja, aber es hat den Bereich so weit eingeengt, dass ich mir nur noch sehr wenige Fälle vorstellen kann, in denen es zum Lauschangriff kommen kann. Das Gericht hat ja nicht nur einzelne Vorschriften der Strafprozessordnung für verfassungswidrig erklärt. Es hat die Regelungen, die bestehen bleiben, außerordentlich restriktiv interpretiert, vor allem die Verfassungsänderung selbst. Sie ist nicht mehr, wie sie war.

Die rot-grüne Regierung stellt sich gerne als Hüterin der Bürgerrechte dar. Ist es nicht etwas merkwürdig, dass diese Regierung auf dieses Urteil warten musste, bevor sie etwas ändert?

Ja. Das ist für mich ein schon gewohnter Zustand. Schließlich haben wir es hier mit Innenminister Otto Schily zu tun, der einer der Väter des Lauschangriffs war und heute konservative Positionen vertritt. Er hat in Karlsruhe auch verloren. Im Grunde überrascht mich auf diesem Feld nichts mehr. Die Grünen können sich nur schwer gegen Schily durchsetzen und sind in dieser Koalition natürlich gehandikapt. Ich hätte mir aber auch gewünscht, dass die FDP auf diesem Gebiet sehr viel aktiver geworden wäre. Die drei Kläger in Karlsruhe, allesamt aus der FDP, haben im Grunde genommen nicht für ihre Partei gesprochen.

Das Urteil ist immerhin eine späte Rehabilitierung des Bürgerrechtsflügels der FDP?

Ja, das will ich so sagen. Und das ist für uns eine befriedigende Situation. Unsere Partei, die die Bürgerrechtspolitik nicht mehr in den Vordergrund stellt, wird daran erinnert, dass dies ein unverzichtbares liberales Politikelement ist.

Die Bürgerrechte stehen schon lange nicht mehr oben auf der politischen Agenda. Warum?

Als ich vor mehr als zwanzig Jahren im Bundeskabinett als Staatssekretär und später als Minister tätig war, da hatten wir Bürgerrechtler eine starke öffentliche Meinung auf unserer Seite. Wir waren sicherlich eine Minderheit – aber eine starke. Diese öffentliche Meinung gibt es in dieser Form heute nicht mehr. Ich bedauere es sehr, dass es diese Unterstützung der Politik durch eine kritische Öffentlichkeit nicht mehr gibt. Umso wichtiger ist jetzt das Urteil.

Und warum ist das so?

Ich denke, es hat mit dem Vordringen von ökonomischem Effizienzdenken in alle Bereiche unserer Gesellschaft zu tun. Und es hängt mit einer wachsenden Gleichgültigkeit gegenüber den Gefährdungen der Freiheit zusammen. Die jüngere Generation zum Beispiel kümmert es nicht, was mit ihren Daten im Internet geschieht. Und da geschieht sehr viel.

Haben Sie eine Idee, wie man dies ändert?

Die Gesellschaft muss begreifen, dass der Zweck nicht alle Mittel heiligt. Freiheit kann nicht verteidigt werden, wenn sie bei ihrer Verteidigung zur Disposition gestellt wird. Gerade liberale Kräfte müssen den Kampf mit den Konservativen aufnehmen, auch wenn das gegenüber den deutschen Stammtischen schwierig scheint und auch angesichts des Totschlagargumentes: „Ihr seid auf der Seite der Täter und nicht der Opfer“. Die Bürgerrechte sind ein so wichtiges Gut, dass es lohnt, dafür zu kämpfen. Und es gibt immer noch genug Leute, die uns auf diesem Weg folgen werden.

INTERVIEW: WOLFGANG GAST