Die Schule des Außergewöhnlichen

Wo steht der Film in der globalen Medienkultur? Eine Mainzer Großtagung zur „Bildtheorie des Films“ hat den „Pictorial Turn“ ernst genommen und nach einer Theorie der bewegten Bilder gesucht. In den 35 Vorträgen wurden zwar viele Phänoneme, aber kaum konsensfähige Begriffe gefunden

VON JÖRG METELMANN

Am Morgen des dritten Tages hat der Kongress sein Thema erreicht. Es wird zum ersten Mal über eine „Bildtheorie des Films“ gestritten. Thomas Rothschild, Filmwissenschaftler aus Stuttgart, erklärt die Einstellung zum entscheidenden Merkmal des Films. Nicht das Einzelbild, nicht die Cadrage machten den Unterschied zu den Kunstwissenschaften, sondern allein die Einstellung. Sie bestimme, wie lange der Zuschauer zuschauen darf, nicht dieser selbst wie im Museum. So weit, so bekannt.

Das ruft den Cinéasten Norbert Grob auf den Plan. Am Beispiel einer Kamerafahrt aus „The Killers“ plädiert er dafür, das Filmbild als ästhetische Kategorie zu sehen. Bewegen sich in einer Einstellung die Figur oder die Bilder, dann sei das schon ein anderes „Filmbild“. Grobs „gefühlte“ Kategorie will stark machen, was in einer Anfang-Ende-Bestimmung der Einstellung zu kurz kommt: das besondere Berührtsein durch die Filmbilder, ein Travelling, das Kräuseln einer Lippe. James Wulff (Kiel) bringt das auf den Gegensatz von „technischer“ und „signifikativer“ Dimension. So weit, so gut. Tagungsziel erreicht, Thema verhandelt, Diskussion erfolgreich.

Dann erhebt sich Norbert Beilenhoff. Mit ruhiger Stimme bestreitet der Bochumer Filmprofessor grundsätzlich, dass man überhaupt eine Spezifik des Filmbildes ausmachen könne. Auch sei das überholt. Wie viel Zeit habe man damit zugebracht, vom Regiestil einzelner Autoren zu einer Systematik zu kommen, und wo stehe man jetzt – wieder mitten in einer Diskussion? Wenn überhaupt, dann müsse man den Bildbegriff offen halten und stets am Einzelfall entwickeln. Das ist ein Startschuss, nun läuft die pragmatisch-deskriptiv ausgerichtete Filmwissenschaft in Person von Thomas Koebner zu Hochform auf. Jedes Filmerlebnis sei eine Schule des Außergewöhnlichen. Man müsse es genießen und endlich aufhören mit dem „positivistischen Unsinn“ der Begriffsarbeit. Koebner, Leiter der Mainzer Filmwissenschaft, organisierte gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Thomas Meder den Großkongress mit 35 Vorträgen.

Präziser als in diesen 20 Minuten lässt sich kaum veranschaulichen, wie schwer es ist, mit den Entwicklungen der Bildgesellschaft mitzuhalten. Denn hinter dem Einwand von Beilenhoff und Koebner steht das Unbehagen, die Vielzahl der visuellen Formen – in Fernsehen, Werbung, Netz – bei der Filmbetrachtung auszuschließen. Seine Studenten gingen zwar noch ins Kino, sagte dazu der Siegener Professor Klaus Kreimeier, aber sie säßen dort als TV-Zuschauer und nicht als Cinéphile. Kino ist nur noch eine Form der Orientierung in der Welt der bewegten Oberflächen. Auch das meint die These vom „Pictorial Turn“, des Übergangs zu einer visuell codierten Kultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Leben in den Ausläufern der „Gutenberg-Galaxis“ bedeutet weiterhin, dass dem Kino ein anderer Stellenwert zukommt als noch in seiner Frühzeit. Wie die Kulturwissenschaftlerin Inge Münz-Koenen an einem Vergleich der Berlin-Filme von Walter Ruttmann („Sinfonie der Großstadt“, 1927) und Thomas Schad („Sinfonie einer Großstadt“, 2002) erläuterte, hat die audiovisuelle Reizüberflutung unserer Tage die Versenkung ins Bild wieder aktuell gemacht. Wo Ruttmann noch den Rhythmus, den Rausch der Bewegung feierte, da sucht der nachgeborene Filmemacher das Gefühl des Augenblicks. Bewusst gewähltes Schwarzweiß und lange Einstellungen wollen sich absetzen vom schnell gedrehten Bild, das täglich über die Monitore huscht und sofort wieder verschwindet.

Überhaupt: der Bildermüll. Eigentlich eine kulturpessimistische Kampfparole, machte sie Kay Kirchmann (Konstanz) zum Prüfstein eines jeden Nachdenkens über Bildtheorie. Denn die Art, wie Bilder hergestellt, verbraucht und nach ihrer Ausscheidung entweder vergessen oder als Kulturgüter erinnert werden, gibt präzise Auskunft über gesellschaftliche Wahrnehmungsverhältnisse. Kirchmann kramte mit diversen Found-Footage-Künstlern in den Kisten der ungebrauchten Formen und brachte einen der wenigen Gedanken hervor, die dem Tagungsgefühl einer gewollten Überforderung produktiv begegneten: Wir suchen nicht nach einer haltbaren Definition des Bildes im Spielfilm, sondern bestimmen es durch das Gegenteil. Leider blieb dieser Gedanke bei den Experimentalfilmen und ihrer recht abgeschiedenen Deutung der Menschheit aus den Bild-Exkrementen stehen. Was es bedeutet, wenn der Müll („Pulp“) als Müll konsumiert und dabei auch noch Kult wird, wie etwa in Tarantinos postmodernem Paradefilm „Pulp Fiction“, konnte nicht geklärt werden.

Im Mainzer Medienhaus kamen erstmals in Deutschland die konkurrierenden Disziplinen Kunst- und Filmwissenschaft zu einem Austausch zusammen. Beide arbeiten mit dem „Bild“, können sich aber, das haben die Diskussionen gezeigt, bisher schwer verständigen. Die erste deutet statische, die zweite bewegte Bilder, und zwischen ihnen steht mehr als nur eine andere Institutsadresse. Wenn sie sich in Zukunft wegen Kürzungen und Umstrukturierungen wirklich zusammenschließen wollen oder müssen, können sie sich vielleicht mit dem Magdeburger Philosophen Klaus Sachs-Hombach verbünden. Der formulierte als Einziger eine „allgemeine Visualistik“, die integrativ gedacht ist und von mehreren Disziplinen gebraucht und ergänzt werden kann. Seine beharrlichen Fragen mochten für den ein oder anderen Film- und Gemäldespezialisten zwar etwas Drolliges haben. Doch das oft beschworene interdisziplinäre Gespräch wird noch so lange dem Gurgeln des Rheins an der Uferpromenade ähneln, bis die Beteiligten wirklich auf offene Ohren umschalten. Auch den Hörsinn in die Bildtheorie des Films zu denken, dazu hat das Mainzer Treffen einen Anfang gemacht.