Glanzvolle Tücke

Schriften zu Zeitschriften: Die Zeitschrift „Ästhetik & Kommunikation“ beschäftigt sich mit dem Geschichtsgefühl. Zu vermelden gibt es dabei einen Generationskampf von Thirtysomething-Intellektuellen mit der vergangenheitsversessenen Linken

In Bezug auf Habermas geht es nicht um Abwägung, sondern um einen Denkmalsturz

VON STEFAN REINECKE

Zuerst das Positive: Es ist eine einleuchtende Idee, sich 2004 dem Geschichtsgefühl zu widmen. Es stehen jede Menge 60-Jahre-Feiern an, die Gedächtnisindustrie läuft auf Hochtouren. Im Juni wird Kanzler Schröder zum D-Day-Gedenken an der Küste der Normandie stehen und, wie die meisten Deutschen, keine revanchistischen Gelüste unterdrücken, sondern sich an Spielbergs „Saving Privat Ryan“ erinnern und denken, dass man mal wieder ins Kino gehen sollte.

Im bundesdeutschen Erinnerungsbewusstsein hat sich etwas verändert. Die tragische Grundstimmung verdampft langsam, der harte pädagogische Ton, der strenge Lea-Rosh-Sound, ist ein Auslaufmodell. Was kommt danach?

Wenn man diesem Heft der Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation glaubt, schlägt erst mal die Stunde der Abrechnung und eines etwas virtuell anmutenden Generationskampfes. Der konservative intellektuelle Jungstar Paul Nolte nimmt sich „Jürgen Habermas und das bundesrepublikanische Geschichtsgefühl“ vor und entwirft eine Kritik der Linken (die allerdings nicht so neu ist, wie der Autor zu glauben scheint). Die Linke hat sich, so Nolte, nachdem sie ihres 68er-Fortschrittsglaubens beraubt war, auf die Vergangenheitspolitik gestürzt wie ein Ertrinkender auf das Floß.

Das Ergebnis ist, laut Nolte, eine satte, vergangenheitsversessene Linke, der zu den wirklichen Fragen, wie Renten- und Gesundheitsreform, vor lauter Nation und Geschichte längst nichts mehr einfällt. Das klingt forsch und ausreichend respektlos. Anderseits fragt sich, ob uns eine Brandrede von Günter Grass gegen die Praxisgebühr oder ein Essay von Enzensberger über die Rentenformel wirklich weiterhelfen würde.

Nolte erledigt einen linken Pappkameraden nach dem anderen. Aus dem Blick gerät dabei, dass die Linken seit 1945 kompensierten, was die Konservativen vermieden: an die NS-Geschichte zu erinnern. Die deutsche Rechte hatte zwei sehr gute Gründe für ihr Schweigen: ihr fatales Bündnis mit Hitler und die Elitenkontinuität nach 1945. Weil Nolte dies übersieht, versteht er auch nicht, was die Habermas-Linke mit ihrem Beharren auf der NS-Geschichte geleistet hat. Martin Hohmann wäre sonst jedenfalls noch CDU-MdB. Doch Nolte geht es nicht um Abwägung, sondern um den Denkmalsturz. Er kratzt an einem Sockel, der neu besetzt werden soll – daher auch der Beiklang von ödipaler Revolte.

An einem ähnlichen Abbruchunternehmen versucht sich der Junghistoriker Stephan Schlak, der sich den Althistoriker Hans-Ulrich Wehler vornimmt. Sein Text ist an Spott kaum zu überbieten, Wehlers umfänglicher Versuch einer gesamtgesellschaftlichen Gesichtsschreibung wird hier gewissermaßen im Vorbeigehen erledigt. Schlak schreibt mit einer Dauerironie, die ebenso glanzvoll wie tückisch ist: Sie vernichtet nicht nur den Gegner, sondern das eigene Anliegen gleich mit. So ist unklar, ob dieses Bashing ernst genommen oder nur eine Fingerübung sein will. Auf jeden Fall ist es lustig – der ödipale Bittermandelgeschmack restlos in Ironie-Zuckerwatte entsorgt.

Doch irgendwie hat man bei Nolte (und gebrochen auch bei Schlak) das Gefühl, einem Familienkrach beizuwohnen, bei dem man eigentlich nichts verloren hat. Je weiter die Texte von dem inszeniert wirkenden Generationskampf der Thirtysomething-Intellektuellen gegen die Altvordern wegrücken, desto angenehmer lesen sie sich.

Unspektakulär beschreibt etwa Hilmar Sack seine Beobachtungen als Museumpädagoge während der Holocaust-Ausstellung in Berlin 2002. Das Feuilleton entdeckte damals (auch anhand der renovierten Wehrmachtsausstellung), dass der Holocaust endgültig museumsreif geworden sei – will sagen: in Beliebigkeit entsorgt. Das, so legt Sack nahe, war vielleicht ein selbstreferenzieller Trugschluss, eine Großraumthese, die den Blick eher verstellt als öffnet. Das Feuilleton entdeckt echte, diskursfähige Erinnerung meist nur, wo Goldhagen attackiert, wo Habermas Ernst Nolte im Showdown besiegt oder die NPD gegen Reemtsma demonstriert – eben dort, wo etwas Spektakuläres passiert. Doch dies ist eine Täuschung – Sack entwirft vorsichtig das Bild von Jugendlichen, die sich die Holocaust-Ausstellungen unberührt von der aktuellen Erinnerungskonjunktur einfach mit Interesse und Empathie anschauen. Dafür wiederum fehlen dem Feuilleton die Worte, die Schlagzeilen sowieso.

Lesenswert ist schließlich – neben einem klugen Aufsatz von Wolfgang Engler über die DDR-Nostalgie in Kino und TV – ein kurzes, helles, biografisches Gespräch mit dem Philosophen Odo Marquard. Marquard ist einer der wichtigsten konservativen Philosophen der alten Bundesrepublik, ein strikter Kritiker der 68er und der Geschichtsteleologie, später der grünen Zivilisationskritik. Ein Denker, der den Status quo der Republik stets gegen die Linke verteidigt hat.

Die Lektüre dieses Gesprächs stimmt ein wenig wehmütig. Marquard verfügt über Geistesgegenwart und sprachliche Genauigkeit, die man bei den jungkonservativen Intellektuellen im U-40-Team vermisst. In den Marquards der alten BRD hatte die Linke Gegner, deren Niveau sie selbst nobilitierte. Umso bedauerlicher, dass diese Linke heute nur noch als Schreckgespenst zu taugen scheint, das durch die Pamphlete konservativer Denkmalstürmer geistert.

Ästhetik & Kommunikation, Geschichtsgefühl, Heft 122/123, 252 Seiten, 20 €