Eine Kleinstadt über dem Dispo

AUS NIEMEGK JOHANNES GERNERT
UNDBERND HARTUNG (FOTOS)

Die Handwerker brachten die Einsicht. Und mit der Einsicht kam der Schock. Firmen können Pleite gehen. Das passiert häufig, gerade in letzter Zeit, gerade in Brandenburg. Aber eine Gemeinde? Eine Gemeinde muss Kindergärten am Laufen halten, Schulen, die Straßen säubern, fürs Gemeinwohl sorgen. Geht nicht, gibt es nicht, wenn eine Gemeinde zahlen soll.

Als die Handwerker wegen offener Rechnungen im Niemegker Rathaus anriefen, gab es „Geht nicht“ auf einmal doch. Es gab nichts mehr. Es ging nicht mehr. Der 2.400 Einwohner große Ort südlich von Potsdam war zahlungsunfähig: kein Geld für laufende Rechnungen. Nicht für die Gehälter der Angestellten. Nicht für die Handwerker. Der Schlag traf die Gemeinde Ende Januar. Und mit dem Schock kamen die Fragen.

Wie kann so etwas überhaupt passieren? So überraschend. So plötzlich. So ganz ohne Vorwarnung. „Das waren unglückliche Umstände“, sagt Eckhard Zorn, „dass wir es nicht rechtzeitig erfahren haben.“ Wie diese unglücklichen Umstände aussahen, dass ist „genau das, was ich nicht sagen möchte“, sagt der Bürgermeister von Niemegk. Er sitzt vor Reihen von Ordnern, auf denen Dinge wie „Niemegk Gestalt.“ stehen oder „Dorferneuerung“. Es war mal der Raum eines Bauamtsmitarbeiters. Jetzt nutzt Zorn ihn gelegentlich, wenn er im Rathaus zu tun hat. Er hat kein eigenes Zimmer. Er macht den Bürgermeister-Job ehrenamtlich. Zorn ist Tierarzt. Gerade kommt er aus dem Stall. Man riecht es ein bisschen.

Nicht so im Auge gehabt

Ende Januar also, erzählt Zorn, habe es den „großen Knall“ gegeben. Der Schock saß. Man munkelte, dass Betroffene sich das Leben nehmen wollten. Zorn formuliert das etwas umständlicher. Was genau vorher schief gelaufen war, dass es überhaupt zum „großen Knall“ kommen konnte, sagt er nicht. Niemand möchte das sagen in Niemegk.

Auch nicht Amtsdirektor Günter Rockel, der Verwaltungschef, der neben Niemegk drei weitere Orte betreut. Es hat etwas mit der Kämmerin zu tun. Mit der alten. Mittlerweile nämlich gibt es eine neue. Aber weder mit der alten noch mit der neuen soll im Augenblick jemand sprechen. Das möchte ihr Chef, der Amtsdirektor nicht, und der Bürgermeister möchte es auch nicht.

„Der Fehler hängt auch an der Person der Kämmerin“, sagt Rockel. „Auch“, sagt er dann noch einmal. Das ganze Amt habe die Sache nicht so im Auge gehabt, wie das wohl nötig gewesen wäre. Auch die Kommunalaufsicht in der benachbarten Kreisstadt Belzig meldete erst im Dezember, dass der Haushalt des vergangenen Jahres so nicht rechtmäßig war. Ein Defizit von gut 700.000 Euro passte nicht in einen Kreditrahmen von 550.000 Euro.

Kein Geld am Zahltag

Auch die Bank konnte den Rahmen nicht mehr passend machen. „Als die Zeichen auf Sturm standen, hätte man drängeln müssen“, sagt Rockel. Nachfragen. Nachhaken. Stattdessen habe man die Sache wohl nicht ernst genug genommen: „Fakt ist, es sind auch grobe Schnitzer gemacht worden.“ Aber welche? Der Amtsdirektor schweigt. Als Rockel den Boden des Niemegker Finanzlochs gesehen hatte, rief er Mitte Februar die Leiter der städtischen Betriebe zusammen. Es würde zum nächsten Zahltag vielleicht kein Geld auf die Konten der Mitarbeiter überwiesen. Man müsse abwarten. Sie sollten vorsichtshalber „ein bisschen besser haushalten.“

Auch Ines Maager war bei der Versammlung. Wenig später informierte die Kita-Leiterin die Erzieherinnen. Man hat Erfahrung in Niemegk mit zahlungsunfähigen Arbeitgebern. Es genügt manchmal, wenn irgendwo ein Großkunde abspringt. Eine Firma meldet Konkurs an, weil die Aufträge fehlen. Der Lohn bleibt aus. „Gang und gäbe“ sei das, erzählt Maager. „Gerade im Winter sind die Vatis überwiegend zu Hause.“ Es kommt vor, dass die Kita-Eltern Essensgeld oder Milchgeld nicht zahlen können. Dass sie fragen, ob es genügt, wenn sie es nächste Woche mitbringen.

Für die Kommune zu arbeiten, galt bisher als Job mit sicherem Einkommen. „Ich wollte das gar nicht glauben“, sagt eine Erzieherin. Am Tag nach Niemegks Bankrotterklärung rief ihre erwachsene Tochter sie an: „Mutti was ist denn nu’, ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen.“

Vor ein paar Tagen dann war wieder Zahltag. Der erste nach der finanziellen Stunde null. Niemegks Bedienstete gingen zur Sparkasse, die gegenüber vom Rathaus liegt und mit dem Slogan „Zukunft sichern – machen Sie jetzt den Finanz-Check“ wirbt. Und sie wunderten sich. Es war Geld auf dem Konto. Die Hälfte des Gehalts nur, aber immerhin. Es gibt Familien, die auf dieses Geld dringend angewiesen sind. Wenn der Mann keine Arbeit hat, wenn es keinen Mann gibt. Oder wenn Mann und Frau für die Stadt arbeiten.

Bis die andere Hälfte kommt, wird es noch ein bisschen dauern. Dafür muss der Kassenkredit auf eine Million erhöht werden. Niemegk hat das gerade bei der Kommunalaufsicht beantragt. Brandenburgs Innenministerium hält einen Fonds für Gemeinden in Finanznot bereit. Auch darauf hoffen die Verantwortlichen. Die Zeit drängt: „So viel hat hier niemand, dass er zwei Monate durchhält“, sagt der Bürgermeister.

Die Leute schränken sich schon ein, wo sie können. Auch Niemegk wird sich weiter einschränken müssen. Weiter sparen. Mehr sparen. Anderswo sparen. Natürlich gibt es Verpflichtungen: die Schule, die Kita, der Hort. Die kann man nicht einfach streichen. Aber was ist mit der Schulküche? „Die macht jährlich 16.500 Euro Miese“, sagt der Amtsdirektor. „Da müsste das Essen soundso viel mehr kosten, dass sich das rechnet. Da können die Leute gleich in eine Gaststätte gehen.“ In der Einrichtung essen in Niemegk nicht nur Schüler und Kita-Kinder. Mittags kommen auch Rentner auf einen Teller Nudeln mit Tomatensoße und Jagdwurst vorbei.

Michaele Schmiedichen, die Wirtin im „Alten Brauhaus“, schimpft darüber. Bei ihr kostet das Tagesessen auch nur 3,30 Euro – „aus reiner Gefälligkeit“. Statt 2,90 wie in der Schulküche. „Muss dit sein, frag ich mich, wer zahlt denn den Rest?“ Schmiedichen geht es wie Niemegk: „Ich hab ooch ne scheiß Zeit. Deshalb kriegen die von mir ooch keene Gewerbesteuer.“ Wovon solle sie die auch bezahlen?

Weißer Watteschnee

In Niemegk gehen die wenigsten ins Gasthaus. Zur Mittagszeit sitzen zwei Rentner an Tischen, die mit weißem Watteschnee und bunten Luftschlangen verziert sind. Gelegentlich kommt ein Handelsvertreter durch und bucht für eine Nacht ein Zimmer. Ab und zu auch einige Arbeiter auf Montage. Es gibt nicht viel zu montieren in Niemegk. Im Gewerbegebiet kommen und gehen die Betriebe. Gerade hat die Kreis-CDU prüfen lassen, ob man den Abfallentsorger APM nicht privatisieren könne. Der Kreistag hat abgelehnt. Als Privatunternehmen, fürchtet Bürgermeister Zorn, wäre APM kaum in der Gemeinde geblieben.

Dabei ist Niemegk ein recht aufgeräumter Ort. Die Arbeiten an der Kanalisation sind abgeschlossen – bis zur Wende gab es gar keine. Niemegk hat eine Kläranlage mit 130 Prozent Auslastung, ein Freibad und ein renoviertes Schulgebäude. In der Robert-Koch-Schule allerdings werden bald einige Räume leer stehen. Es gibt nicht genug Schüler. Die oberen Klassen werden abgeschafft.

Aber die Straße zur Schule ist frisch saniert, wie die meisten anderen im Ort auch. Niemegk war fix nach der Wende, als noch Geld für Investitionen da war. Mittlerweile wird nicht mehr investiert. Es werden laufende Kosten gedeckt. Es wird gestrichen. Allzu viel ist zum Streichen aber auch nicht mehr übrig. Es gibt kein Tafelsilber mehr, keine Grundstücke in Stadtbesitz. Die sind längst alle verkauft. Man kann die ABM-Kraft im Jugendclub entlassen, einige Mitarbeiter im Amt. Das Freibad schließen. Die Schulküche.

Eine Lampe pro Laterne

Man kann das Licht ausmachen nachts. Das hat die Stadtverordnetenversammlung jetzt erst einmal beschlossen. Dass die schwarzen, neuen Laternen in der Straße, die durch den Ortskern führt, nur noch zur Hälfte brennen. Jeweils eine Lampe pro Laterne. Bringt bis zu 3.000 Euro im Jahr. Wenn man sehr wohlwollend schätzt. Es könnte auch Ärger bringen. Der Kriminalität wegen, sagt der Bürgermeister. Zumindest wenn man das Licht ganz aus ließe. Niemegk liegt an der Autobahn. So abwegig sei das nicht. „Früher hatten wir mal eine Schießerei mit Russen.“

Fürs Erste hat die Stadt den Schock verwunden. Aber irgendwann wird es das nächste Niemegk geben. „Wenn sich hier nichts grundsätzlich ändert, ist über kurz oder lang jede Gemeinde so weit“, prophezeit der Bürgermeister. Auch der brandenburgische Städte- und Gemeindebund hat Niemegk nur „die Spitze des Eisbergs“ genannt.

Wenn es nach Zorn ginge, müsste man mit den Veränderungen ganz oben anfangen. All diese Auflagen, die übertriebenen Standards und Normen. Und noch mehr Beamte, die die Einhaltung überwachen. „Wenn man die wegkriegen könnte“, sagt er, „die ganze Bürokratie müsste weg.“ In Niemegk muss die neue Kämmerin die Bürokratie erst einmal in den Griff kriegen. Dann wird man weitersehen.