„gegen die wand“
: Bloß keine Identitäten stiften

In Deutschland pflegen kulturelle Fragen schnell in Selbstverständnisdebatten zu münden. Diese Tendenz zeigt sich in der wiederholten Forderung nach einer deutschsprachigen Quotierung in der Popmusik, als ließe sich eine spezifisch deutsche Gefühlslage nur in deutschen Reimen ausdrücken. Sie zeigte sich in der fast flächendeckenden Ablehnung der Dschungelshow, als würde ein britisches Sendeformat unsere ureigensten Werte gefährden. Und sie zeigt sich beim Kinostart von Fatih Akins Berlinale-Siegerfilm „Gegen die Wand“, als ob zuallererst zu klären wäre, ob wir es hier mit einem türkischen oder einem deutschen Film zu tun haben.

KOMMENTAR VON DIRK KNIPPHALS

Das wird den allermeisten Besuchern dieses Films reichlich egal sein. Sie werden, diese Prognose sei gewagt, schlicht das Gefühl bekommen, einen ziemlich tollen Kinofilm gesehen zu haben. Doch in den Debatten reicht so etwas nicht. Glücklicherweise spricht zwar niemand mehr von der Kulturnation oder der Zerrissenheit der Gegenwart, aber die Schwundform, mithilfe der Kultur Identitäten stiften zu wollen, ist lebendig geblieben. So hat unser noch amtierender Bundespräsident neulich den Klassiker Schiller als wünschenswertes Gegengewicht zu Dieter Bohlen ins Spiel gebracht. Auf der anderen Seite der kulturreligiösen Medaille findet sich ein Kulturpurismus, der sich mit vermeintlichen kulturellen Selbstverständlichkeiten legitimiert.

Wenn aus diesem Anlass schon über ein zeitgemäßes Selbstverständnis geredet werden soll: „Gegen die Wand“ zeigt, dass interessante Kultur mit Reinheitsvorstellungen nichts zu tun hat. Am meisten zu erzählen hat derjenige, dessen Identität in den Zusammenstößen der Milieus fragwürdig geworden ist, und am besten erzählen kann, wer sich aus dem kulturellen Fundus zusammenklaut, was er gerade braucht. Bei Fatih Akin sind das Figuren mit türkischem und deutschem Hintergrund, Dramaturgien von Scorsese und Schiller, Musikstile aus der Türkei und der Punkbewegung und so weiter und so fort.

In der westlichen Popkultur ist dieses Verfahren durchaus üblich. Vielleicht sind mit diesem Film die türkischen Einwanderer endgültig in Deutschland angekommen. Aber mit ebenso viel Recht lässt sich sagen, dass Fatih Akins Film eins dieser geglückten Kulturerzeugnisse ist, die deutlich machen, wie sehr Deutschland insgesamt in einer zeitgemäßen Internationalität angekommen ist.

taz-gespräch SEITE 3