„Es ist nicht meine Aufgabe, Schuld zuzuweisen“

Im Sommer 1999 lässt Daniela Jesse ihre beiden Söhne allein in der Wohnung zurück. 14 Tage bleibt sie fort. Die Kleinkinder verdursten. Die Berliner Regisseurin Aelrun Goette hat sich der Täterin und dem Tatort genähert und den Dokumentarfilm „Die Kinder sind tot“ gedreht. Ein Gespräch über falsche Betroffenheit, abwesende Väter und Sichtblenden gegen Alkoholismus

INTERVIEW ANKE LEWEKE

taz: Frau Goette, eines der ersten Bilder Ihres Films ist eine Totale auf die heruntergekommene Plattenbausiedlung Neuberesinchen in Frankfurt/Oder. Hinter einem der Fenster sind im Sommer 1999 zwei kleine Jungen verdurstet. Wie haben Sie diese Umgebung zu Beginn Ihrer Recherche wahrgenommen?

Aelrun Goette: Ich kann mich an das Gefühl und die Stimmung noch sehr deutlich erinnern. Es war im Herbst. Ich habe damals Tagebuch geführt und geschrieben: „Es ist so, wie wenn einem die Kälte unter die Jacke kriecht.“ Sozialer Brennpunkt ist ein sehr sachlicher Begriff für einen solchen Ort. Wenn man da hinfährt, die Geräusche hört, die Gerüche riecht, die Gesichter der Menschen sieht, bekommt das plötzlich etwas ganz Sinnlich-Konkretes. Ich weiß, dass ich damals eine unglaubliche Leere gefühlt habe. Ich habe mir auch immer vorgestellt, wie Daniela Jesse [die wegen Mordes verurteilte Mutter der zwei Kinder, Anm. der Redaktion] durch diese Gegend gelaufen ist. Ich wollte mit ihren Augen diese Welt erleben.

Das heißt, Sie haben sich in den Kopf einer Frau begeben, die ihre Kinder 14 Tage lang in der Wohnung eingeschlossen hat? Und das im Hochsommer?

Die Überschrift für den Film lautet: Wie konnte es überhaupt dazu kommen? Ich wollte die verschiedenen Elemente, die Teil dieser Tragödie sind, zusammentragen. Deshalb auch die Totale am Anfang, dann folgt die langsame Annäherung an den Ort. Die Nachbarn, die Freunde werden interviewt. Ich habe versucht, das eigentlich Unfassbare einzukreisen. Ich gehe immer näher heran, und es wird immer intimer. Und schließlich bin ich bei dieser komplett gestörten Mutter-Tochter-Beziehung angelangt, die meines Erachtens ursächlich für den Tod der Kinder ist.

Wenn man der Kreisbewegung Ihres Films folgt, wird man mit einem menschlichen Versagen aus Verzweiflung und Schwäche konfrontiert. Man kann die Tat nicht einfach als bloße Grausamkeit von sich schieben.

Daniela ist zu einer Zeit weggegangen, in der eine Räumungsklage lief, sie den Strom nicht mehr bezahlt hatte, die Kinder nicht mehr krankenversichert waren. Sie hatte schon auf so vielen Ebenen versagt, sie konnte nicht mehr. Der Druck wurde immer größer. Dabei wollte sie es allen immer recht machen. Um ihr Versagen haben sich dann weitere Kreise des Versagens gezogen. Die Oma hat sich 14 Tage nicht blicken lassen, obwohl sie im Interview behauptet, sich immer um die Kinder gekümmert zu haben. 14 Tage! Das ist eine verdammt lange Zeit. Wenn einer mal gesagt hätte: „Verdammt, jetzt ist Schluss“ – dann würden die Kinder noch leben.

Die Nachbarn ziehen sich auf den Standpunkt zurück, dass die Kinder ohnehin immer geschrien hätten. Das Jugendamt will von nichts gewusst haben. Beim Betrachten Ihres Films empfindet man große Wut. Man würde alle Beteiligten am liebsten durchschütteln. Wie erging es Ihnen?

Es gab 80 Stunden Rohmaterial. Am Anfang hatte der Film einen viel anklagenderen Tonfall, aber Stück für Stück hat sich das geändert. Schuldzuweisungen sind nicht meine Aufgabe, das macht das Thema auch klein. Dann hätten wir am Ende wieder einen Schuldigen gehabt und selbst nichts damit zu tun. Mein Wunsch war, einen Film zu machen, der wieder bei mir landet. Man soll nicht sagen können, dass es eine Welt ist, die uns nichts angeht. Man darf sich nicht auf einer Betroffenheit ausruhen. Die Kinder sind mitten unter uns gestorben.

Hat sich Ihr Blick dadurch verändert, dass Sie sich auf diesen Ort eingelassen und die Menschen kennen gelernt haben?

Es war eine schizophrene Situation. Ein Jahr lang habe ich recherchiert. Ein Jahr lang habe ich mich bemüht, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Es war so viel Zeit nötig, sie überhaupt zum Reden zu kriegen. Ich musste ihnen das Gefühl geben, dass es nicht um Verurteilung geht, sondern darum, auf Augenhöhe miteinander zu sprechen. So eine Zeit macht etwas mit dir, man kommt nicht mehr als Außenstehende dorthin, sondern ist nach einem Jahr involviert. Man spürt die Trostlosigkeit, die Unfähigkeit zu handeln, ganz anders.

Besitzt die Mutter ein Bewusstsein für ihre Verantwortung am Tod der Kinder? Sie sagt zwar, plötzlich sei eine Leere in ihr aufgestiegen. Dennoch ist sie nicht hingefahren, sondern hat sich mit Alkohol betäubt.

Da schwanke ich selbst ständig hin und her. Die menschliche Seele schaltet das Verdrängen ein, um zu überleben. Auf der anderen Seite wird im Film auch ziemlich klar, dass sie gewusst hat, was passiert. Ich habe mich mit diesem Thema schon häufiger auseinander gesetzt und bereits den Film „Ohne Bewährung“ über eine junge Mörderin gemacht. Da war ich noch viel unbeleckter, was solche Abgründe betrifft.

Inwiefern?

Damals glaubte ich, dass die Täterin doch bereuen müsse, wenn ihr klar wird, was sie getan hat. Wir als Außenstehende haben immer ein bestimmtes Bild davon, wie ein Täter mit seinem Verbrechen umzugehen hat. Aber so läuft es nicht. Ich denke, dass Daniela das Tätersein nicht vom Opfersein in der eigenen Seele trennen kann. Sie kann sich nicht einfach hinstellen und sagen, was von ihr erwartet wird: „Ich trage die Verantwortung dafür, dass meine Kinder verdurstet sind.“

Ein Punkt, der in Ihrem Film vielleicht nicht ausreichend behandelt wird, ist die Tatsache, dass die junge Frau sich selbst immer tiefer ins Unglück manövrierte. Mit 17 Jahren hat sie ihre erste Tochter bekommen, die jetzt bei der Oma groß wird. Das vierte Kind hat sie direkt nach der Geburt zur Adoption freigegeben.

Man kann ihn irrwitzig nennen, diesen Glauben, dass jetzt endlich alles gut wird. Jetzt kriege ich ein neues Kind, und der neue Mann bleibt bei mir, wir gründen eine Familie. Das ist ein absurder Glaube, aber davon war sie getragen. Es ist ein Bedürfnis, dem ich dort immer wieder begegnet bin. Daniela ist kein Einzelfall. Es kommen ja auch andere Frauen im Film vor, die ebenfalls von ihren Männern verlassen wurden.

Der Rückzug der Männer ist im Film tatsächlich erstaunlich. Weder Danielas Vater noch der Freund, bei dem sie sich während der fatalen 14 Tage aufgehalten hat, tauchen auf.

Beide wollten nicht mit mir reden. Auch die anderen Männer aus dem näheren Umfeld wollen nichts damit zu tun haben. Kindererziehung ist für sie Frauensache. Sie selbst können nicht einmal mehr die klassische Rolle des Ernährers einnehmen, weil sie alle arbeitslos sind. Der Alkoholismus ist in Neuberesinchen ein unglaubliches Problem. Wenn die Kinder zur Schule gehen, sehen sie ihre Väter schon besoffen in den Trinkstuben sitzen. Jetzt hat man ernsthaft überlegt, Sichtblenden vor den Trinkstuben zu bauen, damit man nicht mehr reingucken kann. Darum geht es: Man will den Kern nicht mehr angehen, sondern nur noch verdecken.

Fühlten Sie sich bei den Interviews manchmal wie eine Therapeutin, die etwas freilegt und aufarbeitet?

Natürlich kommt in vielen Gesprächen eine unglaubliche Bedürftigkeit zum Ausdruck. Die Sehnsucht, dass endlich jemand kommt und sagt: „Alles wird gut.“ Für Daniela waren die Gespräche vielleicht therapeutisch, weil sie endlich einmal alles rauslassen konnte. Wenn jemand ein so starker Teil eines Films ist, muss er auch einen Wunsch haben dürfen. Es war seit der Tat das erste Mal, dass sie sprach. Die Anstaltspsychologin hatte sich vorher nicht getraut, sich ihr anzunähern. So monströs schien ihr diese Geschichte. Nach der Vorführung mit Daniela und dem Anstaltsleiter meinte sie jedoch zu mir, der Film sei wie eine Tür, weil sie jetzt einen Anhaltspunkt habe. Es macht mich froh, dass es diesen Kontakt und die Weiterbetreuung gibt.

Werden Sie noch einmal in die Plattensiedlung nach Neuberesinchen zurückkehren?

Ja. Ich wollte unbedingt, dass eine der Filmpremieren dort stattfindet. Mit „Die Kinder sind tot“ bringe ich Daniela dorthin zurück, wo alle froh sind, dass sie weit weg hinter Schloss und Riegel sitzt.