Schwingende Straßen

Kurvige Wege der Forschung: Bücher über den Autobahnbau im „Dritten Reich“ und in der DDR

VON DIETMAR BARTZ

Kurz nach den letzten Tagen der DDR waren auf den 60 Kilometern zwischen dem Autobahndreieck Spreewald und dem Grenzübergang Forst drei Phasen deutscher Straßenverkehrsgeschichte zu besichtigen. Während bei Lübben bereits Westfirmen die Fahrbahnen nach den BRD-Normen ausbessern, bestand der mittlere Teil bis Cottbus noch ganz aus den groben Betonplatten der Sechzigerjahre. Und das letzte Stück bis an die polnische Grenze war so einbahnig geblieben, wie es 1942 die Arbeiter hatten liegen lassen, als die NS-Führung die Arbeiten an den Reichsautobahnen einstellen ließ. Höchstgeschwindigkeit: 30 km/h, Lkws durften hier gar nicht fahren: An den Platten fehlten manchmal so große Stücke, als seien sie fünfzig Jahre nicht repariert worden.

Was vermutlich auch so war. In seinem Buch beschreibt Axel Doßmann die widersprüchliche, fast chaotische Autobahnpolitik der DDR. Durchaus in Anlehnung an die Symbolpolitik der Nazis, die mit ihren „Straßen des Führers“ die „deutschen Gaue“ verbinden wollten, sollten die grenzüberschreitenden Projekte die Freundschaft mit den sozialistischen Bruderländern Polen und ČSSR ausdrücken.

1958 entschied die Parteiführung, als erstes eigenes Projekt eine Autobahn von Berlin nach Rostock zu bauen. Doch vage Verkehrsprognosen, ökonomische Selbstüberschätzung und übertriebene Erwartungen an die Technik ließen die Arbeit stocken. Sie wurde 1961 mit dem Mauerbau abgebrochen, 1969 wieder aufgenommen, seit 1971 zugunsten des Wohnungsbaus verlangsamt und erst 1978 fertig gestellt – wobei aus Kostengründen Tankstellen und Rastplätze, die Leitplanken und teilweise auch die Standspuren gestrichen waren.

Von der anfangs versprochenen Demonstration des überlegenen sozialistischen Verkehrswesens blieb am Ende frustrierend wenig übrig. Das wurde besonders bei den Transitautobahnen in den Westen deutlich: In der Systemkonkurrenz hoffnungslos unterlegen, konnte die DDR den BRD-Standard nur garantieren, indem sie den Westen dafür zahlen ließ. Doßmann lässt die neuen und auch die alten Freunde der Autobahn ausgiebig in Interviews, Verwaltungsakten, Brigadebüchern und Eingaben zu Wort kommen.

Vor allem die Kontinuitätsdebatte lässt sich nun noch genauer führen. Denn bis in die Fünfzigerjahre hatten Ingenieure im Verkehrsministerium der DDR ihre neuen Trassen noch unter dem Aspekt der Wiedervereinigung geplant. Außerdem hatten sich die alten Autobahnbauer durchaus um die Wahrung ihres Erbes zu kümmern versucht – oder weniger romantisch ausgedrückt: Die früheren nationalsozialistischen Funktionseliten versuchten auch in den neuen Verwaltungsstellen der DDR, den Autobahnen ihre alte, herausgehobene Rolle zukommen zu lassen.

Dabei kam ihnen ein makabrer geschichtspolitischer Umstand zu Hilfe: Um sich von der funktionalen Bauhaus-Moderne des Westens abzusetzen, begann die DDR „nationale Traditionen“ und „klassische Bauweise“ zu propagieren. Im Ergebnis wurden die zerstörten Autobahnbrücken mit ihren Bögen und Natursteinverkleidungen im völkischen Stil rekonstruiert.

Doßmann stammt aus Lutz Niethammers Schule der Alltags- und Mentalitätenforschung. Wohl daher fehlt in seinem Buch eine kurze Bau-Chronologie der einzelnen DDR-Autobahnen bis 1989. Zudem lockt ihn die technische Terminologie gelegentlich in flache Analogien, etwa das „gebremste Leben“ in der Ära Honecker. Solche Analogien vermeidet Benjamin Steininger, der beim Kultur- und Medientheoretiker Friedrich Kittler studiert hat. Steininger betrachtet die Autobahn im „Dritten Reich“ als Raum- und Wunschmaschine und analysiert ihre be- und entschleunigenden Elemente: die Betonplatte, die Kurve, das Verkehrsnetz.

Besonders die ausführliche Darstellung der Geschichte der deutschen Autobahnkurve ist gerechtfertigt. Anders als die Autobahn selbst war die spezielle Kurvengestaltung eine Eigenleistung des „Dritten Reiches“, wurde auch in der DDR übernommen und stellt bis heute in der BRD einen Standard dar. Die geometrische Form, die Klothoide, krümmt sich mit zunehmender Länge immer stärker ein. Sie verhindert, dass ein Fahrzeug die Kurve schneidet, vermeidet einen ruckartigen Übergang in die Gerade und ermöglicht einen gleichmäßigen Aufbau der Fliehkraft.

Die Klothoide, im 18. Jahrhundert entwickelt und 1936 von dem Wiener Professor Leopold Oerley skizziert (Abb. oben), setzte der Ingenieur Walter Schürba messtechnisch im Gelände um. Vor allem erlaubt sie, beim Autobahnbau ganz ohne Geraden auszukommen – und dank ihrer Harmonie perfektioniert sie das „Schwingen der Straße“. Seiher ist die ideale Autobahn nicht mehr die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten.

Die Frage, ob die Ästhetik der Autobahn nun genuin nationalsozialistisch oder technisch bedingt ist, streift Steininger allerdings nur. Und während sich Doßmann mit den vielen Mängeln im DDR-Autobahnbau befasst, bleibt Steininger gegenüber den stofflichen, konstruktiven und raumplanerischen Entscheidungen der im „Dritten Reich“ verantwortlichen NS-„Organisation Todt“ erstaunlich kritiklos. Insofern bezahlt Steininger durchaus einen Preis für den Versuch, das Großprojekt in erster Linie als faszinierendes zeitgenössisches Ingenieursproblem zu verstehen. Und weil er das Triviale ignoriert – etwa das Allerweltsproblem Pfusch am Bau –, reproduziert er den für die Nazi-Baumeister unentbehrlichen Mythos der Perfektion.

Ein solch affirmatives Vorgehen hat Kulturhistorikern wie Steininger die aus der herzlichen Bösartigkeit konkurrierender Forscher herrührende Bezeichnung „Kittler-Jugend“ verschafft. Die vielfältigen „unruhig bewegten Sachverhalte“, die Steininger darlegt, rechtfertigen allerdings seine Methode, solange sie nicht die einzige zur Untersuchung der „schwingenden Straße des Führers“ bleibt.

Axel Doßmann: „Begrenzte Mobilität. Eine Kulturgeschichte der Autobahnen in der DDR“. Klartext-Verlag, Essen 2003, 336 Seiten, 27,90 Euro Benjamin Steininger: „Raum Maschine Reichsautobahn“. Typoskript, Berlin 2003, 122 Seiten. Kontakt: benjamin.steininger@web.de