Wie versteinert

Eine Mutter, die ihr Kind nachts aus dem Schlaf reißt und in die Klinik bringt, obwohl sie selbst die Kranke ist. Eine Familie, die sich der Krankheit der Mutter beugt. Die Geschichte einer Depression

VON HANNA BACHER

Die Geschichte beginnt mit dem ungeliebten Frotteeschlafanzug. Vorne auf der Brust hatte das Oberteil sechs diagonale Streifen: braun, beige, gelb im Wechsel, von links oben nach rechts unten, die Hose war schlabbrig und komplett gelb. Niemand trug damals mehr Frottee, überhaupt hatte niemand blaubraungelbe Klamotten.

Meinen ersten großen Auftritt in diesem gelbe Ungetüm hatte ich durch meine Mutter. Eines Nachts kam sie in mein Kinderzimmer gestürmt und riss mich aus dem Schlaf. „Wir müssen mit dir ins Krankenhaus“, sagte sie. Meine Mutter ist Ärztin, es musste also etwas sehr Ernstes sein. Ich war überrascht – zwar hatte ich die letzten Tage im Bett verbracht, aber eher um dem Terror im Hause zu entgehen als wegen körperlicher Beschwerden.

Mein Vater wartete schon im Auto mit ernstem Gesicht. „Was habe ich denn?“, fragte ich. Niemand antwortete mir. Meine Mutter hatte geweint, sie atmete schwer und blickte die ganze Fahrt lang durchs Fenster, obwohl draußen in der Nacht gar nichts zu sehen war. Die letzten Monate schon war meine Mutter in unserer Gegenwart immer verweint und versteinert gewesen. Ihre Stimme kannte man fast nur noch von nächtlichen oder morgendlichen Streitereien mit meinem Vater hinter verschlossener Tür. „Immer denkst du nur an dich und deinen Beruf“, schrie sie dann. „Du zerstörst mein Leben.“ Mein Bruder und ich lauschten dem Ehekrieg durch die Wand, schweigend.

In der Kinderklinik beleuchtete das Neonlicht erbarmungslos meinen blöden Aufzug: Pyjama, Schuhe, Anorak. Ich musste mich auf eine Liege legen, und ein Arzt drückte mir auf dem Bauch herum, während er meiner Mutter Fragen stellte. Dann nahm er mir Blut ab, und ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, saßen wir schon wieder auf dem Gang vor der Notaufnahme. Mein Vater trug mich auf seinen Armen zurück zum Auto. Draußen wurde es langsam hell. Ich traute mich nicht, zu fragen, was denn nun mit mir los war.

Auch in den nächsten Tagen erfuhr ich nicht viel mehr. Ich lag weiter im Bett, und meine Mutter telefonierte mit Ärzten. „Meine elfjährige Tochter braucht eine Notoperation“, hörte ich sie einmal sagen. Ich überlegte, ob ich wohl sterben müsse. Wir fuhren noch zu einer ganzen Menge anderer Ärzte, immer in demselben gelben Pyjama, immer ohne Ergebnis.

Bei den Ärzten war zuerst immer von Darmverschlingungen, Tumoren oder Blutungen die Rede, aber nach der Untersuchung schien außer meiner Mutter niemand mehr so richtig besorgt zu sein. Da mir auf direkte Fragen keine Antwort gegeben wurde, versuchte ich Umwege. „Mama, darf ich Chips haben?“, fragte ich sie eines Tages. „Nein“, antwortete sie kategorisch. Da wurde mir klar, dass ich wohl doch nicht lebensgefährlich bedroht war – sonst hätte sie mir ja wohl kaum meinen letzten Wunsch verwehrt …

Eines Tages, als ich aufwachte, war es ruhig in der Wohnung. Meine Mutter war weg. Stattdessen war eine ihrer Freundinnen da, um uns das Frühstück zu machen. „Du musst ab jetzt ganz lieb zu der Mama sein“, sagte sie zu mir. „Die Mama hatte einen Nervenzusammenbruch.“ Ich fand die Freundin blöd – und außerdem war ja gar nicht ich nicht „lieb“ gewesen.

Ein paar Tage später durften wir sie besuchen. Das erste Mal seit Wochen betrat ich ein Krankenhaus wieder vollständig bekleidet. Meine Mutter lag im Bett und sagte nicht viel. Sie war kalt und abweisend, und das sollte die nächsten zwanzig Jahre so bleiben.

Ich werde wahrscheinlich nie herausbekommen, wie sich die Geschichte aus der Perspektive meiner Mutter abgespielt hat. Sie hat mit mir nicht darüber gesprochen, und ich habe sie nie gefragt. Nach ihrem ersten Zusammenbruch galt ein unausgesprochenes Schweigegelübde – aus Angst vor einem neuen Anfall.

Was damals mit meiner Mutter los war, sickerte erst in den nächsten zehn Jahren sukzessive in mein Gehirn. Ich schnappte Gesprächsfetzen auf, in denen von Depressionen die Rede war. Eines Tages, da war ich schon neunzehn, fragte ich: „Wo ist eigentlich Mama?“ Und mein Bruder entgegnete: „Die ist doch bei Dr. Brandes.“ Als wenn ich das hätte wissen müssen. Erst da erfuhr ich, dass meine Mutter seit mittlerweile dreißig Jahren jeden zweiten Donnerstag ihren Therapeuten trifft.

Inzwischen habe ich jede Menge Bücher über Menschen mit Depressionen gelesen. Ich habe mit Psychologen über das Thema gesprochen und mit Angehörigen von anderen Betroffenen. Ich weiß jetzt, dass Depression eine Krankheit ist und keine Schwäche. Ich weiß auch, dass meine Mutter sich nicht einfach zusammenreißen kann, auch wenn ich mir das in den letzten zwanzig Jahren oft gewünscht habe. Verstehen kann ich es trotzdem nicht.

Wenn jemand eine Gehbehinderung hat, kann man darauf Rücksicht nehmen. Man kann ihm schwere Sachen abnehmen, die er nicht tragen kann, man stützt ihn, man plant nicht unbedingt große Spaziergänge ein. Aber was macht man, wenn jemand eine Seelenbehinderung hat?

In unserer Familie hat es sich etabliert, meine Mutter zu schonen. Mein Vater hat es uns Kindern vorgemacht: Meine Mutter darf nicht belastet werden. Nicht, wenn man nachts aufwacht und Angst hat, nicht, wenn es in der Schule Ärger gab, und nicht, wenn einen der erste Freund ohne zu zögern abgeschossen hatte. Auf diese Art habe ich ein Nichtverhältnis zu meiner Mutter entwickelt. Nie habe ich mit ihr über irgendetwas Wichtiges gesprochen.

Bei meinem Bruder ist das anders. Er ist Mamas Großer. Als wir Jahre später einmal über die Ereignisse sprachen, warf er mir vor, ich hätte damals das Baby gespielt, hätte nicht wahrhaben wollen, was passiert. „Das ist nicht fair“, sagte ich, „mich hat sie nachts ohne jeden Grund ins Krankenhaus geschleift und wollte, dass ich operiert werde, nicht dich.“ Aber davon will wiederum mein Bruder nichts wissen. „Die Geschichte bildest du dir doch nur ein.“

Kein Wunder, dass die Erinnerungen so unterschiedlich sind. Fast zwei Jahrzehnte haben wir nur ganz selten, und wenn überhaupt, dann nur in Abwesenheit meiner Mutter über ihre Krankheit gesprochen.

Und auch das nur im engsten Kreis: Unsere Verwandten und die Freunde meiner Eltern kennen meine Mutter als lebenslustige, intelligente Karrierefrau, die ihre Familie managt. Und das ist sie nach außen hin ja auch. Meine Freundinnen, deren Mütter frustrierte Hausfrauen sind, beneiden mich immer um sie. Was bei uns intern passiert, darüber ist fast nie gesprochen worden, und worüber man nicht spricht, das gibt es nicht. Manchmal denke ich, dass sie selbst schon gar nicht mehr weiß, dass wir die ganze Zeit auf sie Rücksicht nehmen.

Da sie offiziell nicht krank war, hat sie auch offiziell uns alle ständig dafür verantwortlich gemacht, wenn es ihr schlecht ging. Noch heute gibt es oft Situationen, in denen ich nicht unterscheiden kann, ob ich ihr gegenüber tatsächlich einen Fehler gemacht habe oder ob es nur eine ihrer Wahnvorstellungen ist. Es gibt Tage, da bin ich so müde und matt durch das ewige Stillhalten. An solchen Tagen möchte ich am liebsten zu ihrem Therapeuten gehen und ihn zur Rede stellen: „Was erzählen Sie meiner Mutter da eigentlich? Warum wird und wird es nicht besser mit meiner Mutter? Was ist denn nun los mit ihr und mit uns?“ Aber das Problem ist ja, dass es eben kein konkretes Problem gibt.

All das hätte ich niemals durchgehalten, wenn nicht mein Vater gewesen wäre. Mit einer unerschütterlichen Solidarität und Liebe zu seiner Frau hat er sich zwischen uns und sie gestellt. Er hat uns Kindern das Verhalten meiner Mutter übersetzt. „Wenn sie brüllt“, so hat er gesagt, „dann hat sie nur Angst. Und wenn sie mich angreift, dann nur, weil sie sich verteidigen will.“ Ihm zuliebe haben wir versucht, den Frieden zu wahren, so gut es ging.

Es hört sich vielleicht absurd an, aber der zweite Zusammenbruch meiner Mutter hat die Sache für kurze Zeit gebessert. Ich war bereits achtundzwanzig Jahre alt, und auch wenn ich nicht mehr zu Hause wohnte, konnte man mir doch nicht mehr so leicht etwas vormachen. Als ich meine seltsam ohnmächtig wirkende Mutter zum ersten Mal in der Klinik besuchte, griff sie nach meiner Hand. Das hatte sie seit Jahrzehnten nicht gemacht. „Ihr lasst mich doch nicht allein?“, flehte sie.

Die Zeit ihrer Genesung, als sie endlich mit uns über ihre Ängste sprach, war wie ein Aufatmen für uns alle. Ihre Depression lichtete sich, und ich dachte, jetzt würde alles gut. Leider dauerte dieser Zustand nicht lange an. Heute hat sich wieder das Schweigen über die Familie gelegt, und die Aggression lauert nur auf den nächsten Anlass. Meine Mutter ist misstrauisch. Sie bewacht die Telefongespräche meines Vaters mit uns. Wenn wir zu Hause sind, dürfen wir kaum mit ihm allein reden. Das kleinste Anzeichen eines vertraulichen Treffens kann einen neuen Schub bei ihr auslösen.

Im Grunde kann ich es ihr noch nicht einmal verdenken, tatsächlich reden wir viel über sie hinter ihrem Rücken: Wenn sie wieder einmal nicht aufstehen möchte, beratschlagen wir, was zu tun ist; wenn sie schreit und wütet, überlegen wir, wie man sie beruhigen kann; wenn sie im Bett liegt und weint, muss jemand sie trösten.

Ihre Krankheit terrorisiert meine Mutter selbst, aber sie terrorisiert auch die Familie, und es ist nicht immer leicht, die Depression nur als einen bösen Geist zu sehen, der von meiner Mutter Besitz ergriffen hat. Als Teenager ist mir das nicht gelungen, da habe ich meine Mutter bekämpft, sie gehasst dafür, dass wir so unnormal sind.

Man sagt, dass Kinder mit kranken Eltern schneller erwachsen werden. In meinem Fall stimmt das nicht. Ich werde immer in gewissem Sinne noch viel stärker Kind bleiben, weil die Launen meiner Mutter unbedingten Gehorsam von allen Beteiligten fordern.

HANNA BACHER, Jahrgang 1971, lebt als freie Journalistin in Mülheim an der Ruhr