Umkehr wäre fatal

VON MARTIN KANNEGIESSER

Unser Land ist schon lange nicht mehr die alte erweiterte Bundesrepublik, die Welt um uns herum hat sich in den letzten 15 Jahren gewandelt. Unsere Infrastruktur setzt Patina an, bröckelt, und eine zunehmende Zahl unserer Bürger kann den Lebensstandard kaum noch auf gewohnte Höhe halten. Viele der „erworbenen“ Ansprüche (gegen wen eigentlich?) sind von Wirtschaft, Staat und Sozialsystemen nicht mehr finanzierbar – wenn man sie nicht zurückschraubt, muss man mit der Verfütterung des verbliebenen Saatgutes beginnen. Genau an diesem bitteren Kern der Wahrheit setzte ein mutiger Politikentwurf ein, die Agenda 2010.

Im Kern will sie den Grundsatz von Solidarität bewahren, indem die finanziellen Lasten aus den Sozialsystemen gekürzt werden. In der Sache hat dies aufgrund der kurzen Zeitspanne noch nicht viel bewegen können, aber das Klima wandelt und die Verteilungsdebatte verschärft sich. Manche Politiker und Funktionäre erwecken den Eindruck, dass die Kürzungen von Sozialleistungen durch weitere Umverteilungen vermeidbar oder doch abmilderbar seien. Dies erzeugt oder konserviert Illusionen mit gefährlichen Folgen für die lebensnotwendige Vitalisierung unseres Landes.

Solche Illusionen werden genährt durch Funktionärskader der Interessengruppen, die nicht über den Tellerrand der eigenen Organisationsinteressen hinausblicken können oder dürfen. Sie könnten eine übermächtige Polarisierung in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft lostreten – mit der Gefahr von Radikalisierung.

Wir müssen den Anfängen wehren – die Umkehr des Geistes hinter der Agenda 2010 wäre fatal, könnte den Grauschleier über Deutschland zu einem dichten Netz werden lassen. Um den Preis der Inkaufnahme eines Stücks reduzierter Solidarität haben wir die Chance, den Standard des Landes insgesamt zu halten, aber auch nur dann, wenn wir deutlich mehr leisten, deutlich besser sind als andere.

Ein Zurückfallen in der Agenda 2010 oder ein Nachlassen in den Bemühungen um die Förderung zu mehr Leistung entzöge unserem Land seine wichtigsten Grundlagen.

Martin Kannegiesser ist Vorsitzender des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall und Unternehmer