Pariser Schlacht um Ruandas Genozid

Ein französischer Untersuchungsrichter gibt Ruandas heutigem Präsidenten Paul Kagame die Schuld an dem Flugzeugabschuss, der im April 1994 den Völkermord in Ruanda auslöste. Beweise werden nicht vorgelegt. Aber nun steht die UNO im Zwielicht

Somit wären Tutsi am Völkermord an Tutsi schuld, und nicht mehr die eigentlichen Täter

VON DOMINIC JOHNSON

Pünktlich vor dem 10. Jahrestag des Völkermords in Ruanda, der zwischen April und Juni 1994 über 800.000 Menschen das Leben kostete, wird aus Frankreich Ruandas gegenwärtiger Führung die Schuld am Ausbruch des Genozids zugeschoben. Es geht um den 6. April 1994, als am Abend das Flugzeug des damaligen ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana über Ruandas Hauptstadt Kigali abgeschossen wurde. Radikale Hutu-Milizen begannen daraufhin mit Massakern an Ruandas Tutsi. Der gut geplante Vernichtungsfeldzug sollte den UN-überwachten Friedensprozess zwischen Ruandas damaliger Hutu-dominierter Regierung und der damaligen Tutsi-kommandierten Rebellenbewegung RPF (Ruandische Patriotische Front) überflüssig machen. Schließlich aber besiegte die RPF das Völkermordregime. Sie regiert das Land bis heute unter Präsident Paul Kagame.

Ein französischer Untersuchungsrichter will nun herausgefunden haben, dass Kagame selbst den Abschuss des Präsidentenflugzeugs am 6. April 1994 anordnete. Der Ermittlungsbericht des Anti-Terror-Richters Jean-Louis Bruguière, dessen wesentliche Passagen die Tageszeitung Le Monde exklusiv vergangene Woche enthüllte, nennt Kagame als Befehlshaber von RPF-Kämpfern, die Boden-Luft-Raketen auf die Maschine abgeschossen hätten. Somit wäre die Tutsi-Führung der RPF am Ausbruch des Völkermords an Ruandas Tutsi schuld, und nicht mehr die eigentlichen Täter: die Hutu-Militärführung, die nach dem Tod Habyarimanas die Macht übernahm und den Völkermord kommandierte.

In Ruanda hat Bruguière nicht ermittelt; seine Erkenntnisse stützen sich auf Aussagen von RPF-Dissidenten im Exil, die zum Teil längst bekannt sind und für die es keinerlei unabhängige Bestätigung gibt. Die wichtigste davon ist ein 2000 veröffentlichtes Memorandum des RPF-Dissidenten Jean-Claude Mugabe, der damals nicht in Kigali war und dessen Aussage Fehler enthält. So behauptet er, dass die RPF-Einheiten in Kigali am Abend des Attentats sofort zum Angriff übergegangen seien, was nicht stimmt.

Alle vorliegenden Augenzeugenberichte über den Ausbruch des Völkermords sind sich einig, dass Habyarimanas Flugzeug von einem Hügel unter Kontrolle der Präsidialgarde aus abgeschossen wurde. Knapp eine Stunde später begannen Hutu-Milizen, Straßensperren zu errichten, während die Präsidialgarde den Abschussort abriegelte. Zugleich beanspruchte Ruandas Stabschef Théoneste Bagosora, führender Gegner des Friedensprozesses, die Macht im Staat. Alles spricht dafür, dass der Abschuss ein Putsch radikaler Militärs war, die dann mittels Genozid unumkehrbare Fakten schaffen wollten.

Ruandas Regierung hat Bruguières Untersuchung zurückgewiesen. „Nichts Neues“ enthalte sein Bericht, befand gegenüber AFP auch der französische Historiker Gérard Prunier, Autor eines Standardwerks über Ruandas Völkermord. „Es gibt keine Beweise. Die Zeugen geben ihre Meinung ab.“ Er verlangt die Veröffentlichung des kompletten Untersuchungsberichts. Das aber, ebenso wie die Einleitung eines Gerichtsverfahrens, lehnt Frankreich ab.

Die Zeitungsveröffentlichung gehört zu einer erneut anschwellenden Kontroverse über Frankreichs damalige Rolle in Ruanda. Frankreich war während des Völkermords der engste militärische Verbündete des ruandischen Regimes. Die Pariser Nichtregierungsorganisation Survie will dem jetzt mit einer „Bürgeruntersuchungskommission“ auf den Grund gehen. Ende März erscheint außerdem ein Enthüllungsbuch von Patrick de Saint-Exupéry, einstiger Ruanda-Reporter des Figaro, schärfster Konkurrent von Le Monde auf Frankreichs Zeitungsmarkt.

Mangels neuer Fakten ist die einzige konkrete Folge der Kontroverse eine erneute Vergiftung der französisch-ruandischen Beziehungen. Und ein blaues Auge für die UNO, deren heutiger Generalsekretär Kofi Annan damals für UN-Friedensmissionen zuständig war und Anfang 1994 den UN-Blauhelmen in Ruanda verbot, Waffenlager der Völkermordmilizen auszuheben. Letzten Donnerstag musste die UNO zugeben, dass sie seit 1994 den Flugschreiber von Habyarimanas Maschine besitzt. Die Black Box lag in einem Schrank in Annans früherer Abteilung und soll jetzt erstmals ausgewertet werden. Aufschluss über die Täter kann sie aber nicht liefern.