Die Nervosität des Gerhard S.

Der Kanzler könne nicht mehr gut schlafen, heißt es. Wegen der ganzen schlechten Nachrichten: Horst Köhler, Ole von Beust, miserable Umfragen, miese Stimmung. Aber er agiert ja auch. Und zwar unangefochten von den Dramen, die ihm die Medien überliefern. Woher kommt dieser Widerspruch?

VON MICHAEL RUTSCHKY

Der Kanzler werde langsam nervös. Wer sagt das? Irgendjemand, der die Zeitung liest, das Radio laufen hat, regelmäßig dem Publikum der großen Medienerzählung angehört.

Der Kanzler hätte doch wirklich Grund, nervös zu werden. Die Union einigt sich mit der FDP auf Horst Köhler als Bundespräsidenten, kein noch so ferner Gedanke an eine sozialliberale Koalition. Aller Wahrscheinlichkeit nach geht das Superwahljahr für die SPD superschlecht aus, weshalb Linksabweichler mit Parteigründungsideen spielen.

Schon jetzt macht Grün in Richtung Schwarz schöne Augen und ruft dort sogar Reaktionen hervor. Die Bevölkerung lehnt die Reform des Sozialstaats, wie sie die Regierung in die Wege leitet, mehrheitlich entschieden ab und fordert mit noch stärkerer Mehrheit noch entschiedenere Reformen – sagen die Demoskopen, und was sie über den Kanzler sagen, sollte ihn erst recht nervös machen, dass er nämlich auf der Beliebtheitsskala der Politiker, wo er früher regelmäßig ganz weit oben rangierte, immer tiefer abrutscht.

Aber der Kanzler ist nicht nervös. Neulich durfte ich ihm wieder live zuschauen, eine Kulturveranstaltung im Kanzleramt. Diesmal ging’s um Kino; der Kanzler leitete sie mit einer kleinen Rede ein – was er brechtisch zu verfremden pflegt: „So steht es hier“, sagt er, wenn eine Formulierung Verblüffung oder Protest hervorruft –, dann diskutierten Romuald Kamarkar, Michael Ballhaus und Dieter Kosslick über den deutschen und den amerikanischen Film, unter Anleitung der Kulturstaatsministerin Christina Weiss, der aber herauszupräparieren misslang, was sie so gern gehört hätte, dass der Deutschfilm wieder richtig was gilt in der Welt.

Dabei saß der Kanzler im Publikum und hörte zu, keinerlei Anzeichen von Nervosität. Irgendwann stand er auf und ging, und das Zimmer, in dem ich ihn verschwinden sah, war wohl das Kanzlerbüro.

Der Kanzler hatte noch zu arbeiten, und das ist vermutlich eine Schlüsselszene. Was der Kanzler arbeitet und was die Medien erzählen, das muss man unterscheiden. Das politische Subsystem und das der Massenmedien – erklärt uns ein Mensch, der sich mit den Theorien Niklas Luhmanns auskennt – gehen, allen Pressekonferenzen, Talkshows, Politikerinterviews zum Trotz, nicht fließend ineinander über, nein, hier herrscht eine deutliche Trennung der Funktionslogiken. Regieren ist etwas anderes als der Bericht darüber.

Moderne Politik hat das Kategorische abgestreift

Und es handelt sich auch um keinen Bericht im Sinne einfacher Widerspiegelung, es handelt sich um eine Erzählung, die bestimmten Regeln folgen muss, um zu funktionieren. Dem Publikum fehlt jedes Interesse an den endlosen Konferenzen mit nahen und fernen Mitarbeitern, mit Gegnern, befreundeten Premierministern, an den Telefongesprächen, Schriftwechseln – was alles mit Aufmerksamkeit und Intelligenz bewältigt werden muss, aber so aus der Nähe keine Bewegung verrät.

Entscheidungen mit dramatischem Wert stehen äußerst selten an, überhaupt fehlt action. Um Freund oder Feind, Krieg oder Frieden, Armut oder Reichtum, Heil oder Unheil geht es so gut wie nie. Und man kann das als großen zivilisatorischen Fortschritt der letzten 50 Jahre feiern, dass Politik das Unbedingte und Kategorische zunehmend abgestreift hat. Politik hat nichts mehr mit Weltanschauung oder gar Religion zu tun (deshalb ist die Kopftuchgeschichte so peinlich, der islamische Terrorismus so schreckenerregend).

Die alltäglichen Regierungsgeschäfte aber möchte niemand lesen, hier möchte niemand zuschauen. Um davon erzählen und das Publikum in Spannung versetzen zu können, müssen die Medien den Kleinkram aufbrausen. Irgendwie muss es doch um Heil oder Unheil gehen, das mit jeder Entscheidung (oder Nichtentscheidung) des Kanzlers über uns kommt (oder ausbleibt).

Äußerst beliebt auch in unseren Kreisen sind Zukunftsprojektionen – halluzinatorische Vermutungen über eine Zeit, über die wir definitiv nichts wissen können –, die Massen hungernder Rentner und missratener Klone, die im Jahr 2040 ein größtenteils türkisches Deutschland vollkommen destabilisieren werden, wenn die Bundesregierung nicht auf der Stelle diese oder jene (nach Belieben einzutragen) Maßnahme ergreift …

Glänzend zur medialen Dramatisierung eignen sich auch Materien, für die der Kanzler, die Bundesregierung unzuständig sind. Lange funktionierte das Wirtschaftsleben in diesem Sinne. Warum unternimmt der Kanzler, die Regierung nicht endlich Einschneidendes, um die Konjunktur zu beleben? Gerade die SPD, die von der Arbeiterbewegung abstammt, müsste doch endlich die Arbeitslosigkeit senken. Neulich beim Zappen ließ ich den Pfarrer Schorlemmer ein wenig an mich hinreden: Wie unverzichtbar Arbeit für das Selbstgefühl und den Lebenssinn jedes Einzelnen ist und dass wir ihm – sofern er keine Arbeit hat – dieselbe unmöglich länger vorenthalten dürfen.

Das soll natürlich den Bundeskanzler einschließen und endlich so nervös machen, dass er die Arbeitslosigkeit zum Verschwinden bringt. Aber der Bundeskanzler reagiert nicht, und so darf wieder einmal der beliebte Satz fallen: „Die Politik hat versagt.“ Und das ist erzählenswert, weshalb es so gern für die verschiedenen Handlungsfelder wiederholt wird.

Als besonders beliebte Erzählstrategie erweist sich seit geraumer Zeit: Wie wäre es, wenn wir den Kanzler wechseln? Das wäre doch das Ultimum des Erzählenswerten. Hat nicht der Stern-Chefredakteur schon voriges Jahr Gerhard Schröders Rücktritt und die Kanzlerschaft von Wolfgang Clement vorgeschlagen?

Das gleiche Erzählmuster diskutiert Prince Charles

Auf jeden Fall ein neuer Name für die Hauptperson in der Erzählung – womöglich der Name einer Frau? –, und auch drumherum stehen viele neue Namen zur Besichtigung an. Und man würde später vielleicht denken: Mein Gott, wenn man jetzt Westerwelle zuguckt in seinem Ungeschick als Außenminister, da wünscht man sich doch Joschka Fischer zurück, gerade jetzt, wo der amerikanisch-asiatische Krieg ansteht!

Wäre nicht eine Konstellation denkbar, fragt jener Chefredakteur, demonstrativ von Verantwortungsgefühl durchdrungen, in der die Bundeskanzlerin Joschka Fischer wegen seiner Erfahrung und seiner Verbindungen wieder in das Amt des Außenministers beruft, obwohl seine Partei in der Opposition ist? Vielleicht wäre angesichts der internationalen, sich täglich verschärfenden Krise eine Allparteienregierung notwendig?!

Das wiederum hat mir eine süddeutsche Redakteurin nach der letzten Bundestagswahl verraten. Ihr Blatt, Rot-Grün seit langem zugeneigt, setzte auf Bundeskanzler Stoiber und sein Kabinett einfach wegen des informatorischen Wallungswertes, den der Regierungswechsel erzähltechnisch mit sich brächte.

Andernorts kann man dasselbe Muster an den innigen Erörterungen der proletarischen Frauenzeitschriften ablesen, wann endlich die Queen zugunsten von Prinz Charles und der stiekum zugunsten von Prinz William abdanke? Das wäre doch toll, König William V. von Großbritannien und Irland, und dazu noch so jung und so niedlich!

Früher dachte ich, die Medien ordnen sich den politischen Lagern zu, Springer steht für dit, die taz steht für dat, und man muss sich entsprechend engagieren. Inzwischen beschäftigt mich stärker, dass die Medien als solche, als diese große Erzählmaschinerie die Politik (und alle anderen Themen) unter ihre Kontrolle bringen wollen.

Die Lagerzugehörigkeit ist dabei nicht ganz und gar unwichtig – weit aufregender ist der überraschende Lagerwechsel. Vielleicht schlägt die Bundeskanzlerin in ihrer zweiten Amtsperiode, angesichts der geänderten Machtverhältnisse in der Bundesversammlung, als Bundespräsidenten Gerhard Schröder vor, ein über die Maßen verdienter Elder Statesman, den die Deutschen in ihrer Mehrheit bewundern? Und das wäre doch einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein ehemaliger Kanzler Präsident wird …