Würdigt die Dummheit!

Kleine Soziologie der Erziehung (5): In der Erziehung kann es gar nicht darum gehen, das in der Gesellschaft relevante Wissen zu vermitteln. Vielmehr sollen Fehler eine Orientierung bieten können

VON DIRK BAECKER

In der Erziehung geht es nur darum, aber auch immer darum, Personen die Fähigkeit zum Bezug des Wissens auf ein Nichtwissen und umgekehrt lernen zu lassen, weil sie dadurch die Fähigkeit erwerben, an Kommunikation teilzunehmen. Die Konsequenzen, die man aus dieser Reflexion auf Funktion, Medium und Codierung der Erziehung ziehen kann, sind weitreichend. Nur drei seien hier genannt.

Erstens kann man die Erziehung von der Aufgabe entlasten, das in der Gesellschaft wo auch immer relevante Wissen zu vermitteln. Darum kann es nicht gehen und damit wäre die Erziehung auch überfordert. Stattdessen geht es um zu Recht so genanntes „exemplarisches“ Lernen, an dem die Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen eingeübt werden kann, um sich anschließend, im wirklichen Leben, im Kontext von Nichtwissen das Wissen aneignen zu können, das man warum auch immer tatsächlich braucht.

Zweitens muss es der Erziehung schon deswegen, weil es um die Vermittlung von Sachwissen nur im exemplarischen oder auch im methodischen Sinne geht, um so mehr darum gehen, die Personwerdung des Menschen auch in der Hinsicht der sozialen und emotionalen Kompetenzen zu unterstützen, die man dazu braucht. Kindergarten, Schule und Universität bieten hinreichend viele Anlässe, die Selbstbeobachtung des Individuums im sozialen Zusammenhang anzuregen, zu unterstützen und herauszufordern. Mit Therapie hat das im Übrigen nichts zu tun. Denn es geht, wieder mit einer leichten, aber bedeutsamen Nuancenverschiebung, nicht um die Veränderung, sondern um das Werden der Person, oder anders gesagt: nicht um ihre Psyche, sondern um ihre Kommunikation. Dazu genügt es, alle möglichen Arten von Zusammenhängen aufzusuchen, in denen etwas über das Wissen und Nichtwissen nicht nur in der Kommunikation, sondern auch über die Kommunikation, und dies: aus Anlass der Beobachtung der eigenen Person, gelernt werden kann.

Und drittens kann die Erziehung die Scheu vor dem Nichtwissen fallen lassen, das bislang bei Lehrern und bei Schülern eher Anlass war, sich ertappt zu fühlen, als Anlass, weiter nachzufragen und einem bisher vielleicht noch nicht beobachteten Sachverhalt auf die Spur zu kommen. In diesen Zusammenhang gehört auch ein Interesse an Fehlern nicht als Anhaltspunkte für Korrekturbedarf, sondern als Anhaltspunkte für die Beobachtung einer Praxis, die ihre eigenen Gründe haben mag. Kommunikation ist ebenso Umgang mit Nichtwissen wie laufender Versuch der Fehlervermeidung. Nichtwissen und Fehler erfüllen eine mögliche Orientierungsfunktion und sollten in einer Gesellschaft, die ihrer eigenen Ökologie zu misstrauen Anlass genug hat, entsprechend beobachtet und reflektiert werden.

Darüber hinaus ist das Nichtwissen jedoch interessant, weil es der Schlüssel zu anspruchsvolleren professionellen Praktiken ist, in denen es weniger um die Durchsetzung bereits entschiedener Expertenmeinungen geht als vielmehr um das Ausloten des Potenzials noch unklarer Situationen. Management und Beratung, Kunst und Kultur, Design und Wissenschaft und nicht zuletzt die Erziehung selbst sind in diesem Sinne Praktiken des Nichtwissens, in denen es darum geht, kommunikative Strukturen überhaupt erst einmal entstehen zu lassen, bevor man sie im möglicherweise schon vorentschiedenen Sinne verwendet. Und nicht zuletzt ist das Nichtwissen nicht nur der Schlüssel zu einer Weisheitslehre, die auch in der Erziehung als Reflexion auf die Grenzen des Möglichen und Wünschenswerten sinnvoll sein kann, sondern zugleich auch eine Brücke zu einer Würdigung der Dummheit und Albernheit, die im System die Negation des Systems verfügbar macht und es damit erst wirklich „schließt“.

Der sechste und letzte Beitrag erscheint am kommenden Dienstag. In ihm geht es um die Frage, wie Organisationen hinreichend intelligent sein können, um zur Erziehung zu motivieren.