Identität ist Krise

Hämmern auf die Delete-Taste: In Raoul Zeliks Roman „bastard“ wird die eigene Realität zum Verschwinden gebracht. Morgen liest der Autor in der Reihe „go create“ im Schauspielhaus

von Doro Wiese

Im Cyberspace kann man sich bekanntlich als neue, virtuelle Identität entwerfen: sich breite Schultern, schmale Hüften, kleine, große, mittelgroße Titten, lange, kurze, braune, weiße oder gestreifte Haare zulegen, Mann oder Frau sein, lieben, wen man will, in den seltenen Fällen auch Gender und Rassisierungen durcheinander bringen. Man kann dort kurzum das sein, was der eigenen Imagination gefällt – die von den üblichen, verdächtigen, gesellschaftlichen Richtlinien begleitet wird. Daher ist der Cyberspace der Realität erschreckend ähnlich, selbst wenn das Skateboardfahren dort leichter fällt.

Könnte man auch umgekehrt der so genannten Realität Eigenschaften des Cyberspace zuweisen? Raul Zeliks Roman bastard. Die geschichte der journalistin lee liest sich wie das Protokoll eines um diese Frage kreisenden Gedankenexperiments. Denn die Journalistin Lee, Hauptfigur des Romans, ist im Versuch begriffen, sich selbst nach ihrem eigenen Bilde zu gestalten – mittels Bulimia nervosa. ,,45, das wäre wunderbar, das wäre das Paradies“, denkt sie, als sie bei klirrender Kälte durch Berlin Friedrichshain joggt, um ihrem Gewichtsziel näher zu kommen. Kalorientabellen, Gewicht, Hunger, Fressen, Ekel und Kotzen tauchen daher immer wieder im Roman auf. Sie gewähren Ablenkung und Flucht aus wie auch immer gearteten Realitäten, die sich zwischen zwischen Augusta- und Simon-Dach-Straße, zwischen Berlin, Dortmund und Seoul abspielen.

Was die Hauptfigur zur Spirale des Fresskotzekels antreiben mag, es funktioniert als Postulat des Eigenen, als Inbesitznahme einer selbst gewählten Realität. ,,An was denke ich dann? An Kalorien, Diäten, Dinge, die keinen Platz für Anderes lassen, an den Ekel, gegenüber der Arbeit, dem Alltag, mir selbst, daran, dass ich meinen Körper nicht spüre (...)“ Ihr gegenüber stehen schwarze Löcher und weiße Wände, in welche die Figur eingesogen oder an die sie gestellt wird: „ein Zentralcomputer“.

Im Falle der Journalistin Lee ist dieser identifizierende Zentralcomputer die Zuweisung von Rassisierungen, die sich bisweilen als handgreifliche Gewalt und manchmal in Assimilationsrhetorik äußern. Der ,,Gründungsmythos der zweiten Generation“ kann folglich Rostock oder Solingen heißen, man wird in Deutschland ,,nicht nur als Fremde betrachtet, sondern als Objekt, das ausgelöscht gehört: früher vor allem durch Erschlagen, neuerdings lieber durch Assimilation.“ Dabei ist nichts gewisser als die Tatsache, dass Carla Lee sich eigentlich ziemlich ,deutsch‘ fühlt, ,,Kanak attitude hin oder her, ich bin und bleibe Allemannin, eine ganz gewöhnliche Deutschenschnepfe wie alle anderen auch, von Arbeitsethos, schlechter Laune und Misstrauen zerfressen“.

Weil man aber die Konstruktion der eigenen Identität nicht in der Hand hat, vermessen, fixiert, identifiziert wird, fühlt Carla Lee sich in keiner Schublade zu Hause: Gegenüber der ersten Generation von Einwandernden ebenso wie im besuchten Seoul, ,,zum ersten Mal als Einheimische anerkannt, obwohl ich noch nie irgendwo so fremd war. Ein Schlitzaugengesicht unter zehn Millionen Schlitzaugengesichtern, das jedoch ,Kuckucksuhr‘ denkt oder ,Frühlingskartoffel‘ oder ,Eckkneipenbier‘.“

Dass bei diesem fortwährenden Ringen um Identität – um die Logik des ,,Immergleichen“, wie der Wortsinn verdeutlicht – ihr Konstruktionscharakter zum Vorschein kommt, ist nahe liegend. Identität ist die Zuweisung von Eigenschaften, die dauerhaft sein sollen, während Carla Lee sich zum Verschwinden bringen will und nebenbei alles herbeizitiert, was sich an identitätsstiftenden Gadgets finden lässt, von Comicfiguren, Musikrichtungen, Pop Icons bis hin zu eigenen Heldentaten, die sie im fernen Korea vollbringt und die dann doch der Zensur zum Opfer fallen.

Am Ende des Romans mag eine Erkenntnis stehen, die die Punkband X-Ray-Spex in den 70er Jahren ins Mikrofon schrie: ,,Identity is a crisis, can‘t you see?“ Eine Fluchtlinie ziehend scheint die Figur Carla Lee mit letzter Kraft auf die eigene Delete-Taste zu hämmern, bis sie merkt, dass in der Realität, neben all den eigenen und fremden Vorstellungen, doch etwas bleibt, was sie mag.

Raul Zelik: bastard. Die geschichte der journalistin lee. Berlin u.a.: Assoziation A, 2004, 237 S., 15 Euro. Lesung: Morgen, 22 Uhr, Schauspielhaus, in der Reihe „go create resistance“