Dem Terror trotzen, ohne die Bürgerrechte preiszugeben

Ein gewissen Maß an elektronischer Überwachung ist nötig, wenn die EU ihre Bürger vor Anschlägen schützen soll. Gleichzeitig muss sie die Rechtsstandards in allen Ländern sichern. Doch die nationalen Reflexe sind noch stark: So gilt der europäische Haftbefehl bisher nur in sechs Staaten

taz: Mr. Watson, heute treffen sich die Innenminister in Brüssel, um eine Antwort auf die Ereignisse in Madrid zu finden. Was erwarten Sie sich von dem Treffen?

Graham Watson: Ich hoffe, dass sie sich endlich ernsthaft damit auseinander setzen, wie sie mit dem Terrorismusproblem umgehen sollen. Im Spätsommer 2001 haben wir einen Europäischen Aktionsplan gegen Terrorismus verabschiedet, der eine engere Zusammenarbeit im Rahmen von Europol vorsah; vor allem zwischen den Ermittlungsstellen, die Erkenntnisse über grenzüberschreitende Kriminalität sammeln. Auch die Zusammenarbeit der Staatsanwälte im Rahmen von Eurojust sollte verbessert werden. Passiert ist praktisch nichts. Auch der Europäische Haftbefehl gilt erst in sechs der fünfzehn Mitgliedstaaten.

Nach jeder Krise, jedem neuen Anschlag stellen sich die Politiker vor die Mikrofone und sagen: Wir müssen enger zusammenarbeiten. Statt die dafür vorhandenen Strukturen zu nutzen, schaffen sie neue. Aber in der Substanz ändert sich nichts. Warum?

Die nationalen Reflexe sind immer noch zu stark, ein Beispiel: Im Haushalt für das kommende Jahr wollen wir 9 Millionen Euro dafür bereitstellen, dass geheimdienstliche Erkenntnisse zwischen den Mitgliedstaaten besser ausgetauscht werden. Das Geld wird aus anderen Töpfen umgeschichtet, es wird insgesamt kein Cent mehr ausgegeben als geplant. Der Rat aber setzt andere Prioritäten. Engere Geheimdienstkooperation will er nur mit einer Million Euro fördern. Mit einer Million kann man aber gar nichts bewirken. Ein weiteres Beispiel ist unser geplantes Austauschprogramm zwischen den Justizapparaten der Mitgliedsländer; es war extrem schwierig, die Zustimmung des Rates dafür zu bekommen.

Die terroristische Bedrohung rüttelt an den Grundwerten unserer demokratischen Gesellschaften. Ist der Balanceakt zwischen Bürgerrechten und dem Schutzbedürfnis der Menschen überhaupt zu schaffen?

Ich hoffe es. Spanien und Großbritannien haben auf die Ereignisse des elften September deutlich überreagiert. Sie schränkten die bürgerlichen Freiheitsrechte drastisch ein. Andere Länder antworteten maßvoller. Sie zeigten, dass man dem Terrorismus die Stirn bieten kann, ohne seine Grundwerte über Bord zu werfen. Deshalb muss der Kommissionsvorschlag umgesetzt werden, der in den Mitgliedstaaten Mindeststandards für Gerichtsverfahren einführen will. Wenn wir dem Terrorismus energisch entgegentreten wollen, ohne die Menschen- und Bürgerrechte einzuschränken, müssen wir sicherstellen, dass jeder Verdächtige guten Rechtsbeistand in jedem Mitgliedsland erhält.

Und das reicht, um den totalen Überwachungsstaat zu verhindern?

Bei den Bürgerrechtsorganisationen gibt es ebenfalls ein Umdenken. Letzte Woche räumte Statewatch in einer Presseerklärung ein, dass ein gewisses Maß an elektronischer Überwachung nötig ist, wenn wir den Bürgern den Schutz bieten wollen, den sie von ihrem Staat erwarten. Das Durchsuchen von Telefongesprächen und E-Mails nach dem Zufallsprinzip liefert die Informationen, die wir brauchen, um terroristische Anschläge und andere Formen grenzüberschreitender Kriminalität in den Griff zu bekommen.

Sie spielen auf Echelon an, das Überwachungssystem, das die Amerikaner gemeinsam mit Briten, Kanadiern, Australien und Neuseeland betreibt.

Die Zentrale des britischen Nachrichtendienstes befindet sich in meinem Wahlkreis South West England. Ich habe mit Mitarbeitern gesprochen. Ich kenne die Arbeit, die sie leisten. Ich bin überzeugt davon, dass Aufklärung sehr wirkungsvoll sein kann; vorausgesetzt, die Bürgerrechte werden beachtet.

Was ist in der aktuellen Lage wichtiger: die Verständigung mit dem Islam zu verbessern oder den Austausch zwischen den europäischen Nachrichtendiensten zu intensivieren?

Beides ist wichtig. Aber wir neigen immer dazu, die Wirkung der so genannten weichen politischen Mittel zu unterschätzen. Wir könnten unsere Entwicklungshilfe, unsere Sozialpolitik nutzen, um die Beziehungen zwischen dem Westen und der islamischen Welt zu verbessern. Das ist bislang nicht versucht worden. Der politische Instinkt sagt einem doch, dass wir vordringlich dafür sorgen müssen, dass die beiden großen monotheistischen Weltreligionen auf diesem Planeten friedlich zusammenleben können. INTERVIEW:

DANIELA WEINGÄRTNER