Verwirrende Fluchten

„Persepolis“ von Marjane Satrapi erzählt die Geschichte einer Kindheit im Iran der frühen Achtziger

VON MARTIN ZEYN

„Ich will morgen zur Demonstration mitkommen“, erklärt die neunjährige Marjane ihren erstaunten Eltern, denn „damit eine Revolution gelingt, muss das ganze Volk mitmachen“. 1979 machten im Iran die Veränderungen nicht vor den Kinderzimmern Halt. Marjane Satrapi erzählt in ihrem Comic „Persepolis“ von ihrer Kindheit unter dem Schah und den Mullahs. Sie berichtet von den Diskussion der Erwachsenen, den Bombenangriffen, den willkürlichen Hinrichtungen, einmal hört sie sogar mit, wie ein Onkel die Foltermethoden schildert, da die Eltern, selbst geschockt, vergessen, sie hinauszuschicken.

Satrapi ist in Teheran groß geworden, ihre Eltern gewähren ihr große Freiheit, sie besucht eine französische Schule. Der Jubel, als der Schah endlich zurücktreten muss, ist groß. Noch größer dann der Katzenjammer. 1980 werden die zweisprachigen Schulen geschlossen, Jungen und Mädchen gehen nun in getrennte Klassen, das Tragen von Kopftüchern wird Pflicht. Die ersten Schulkameraden emigrieren mit ihren Familien. Und ein befreundeter Kommunist, ein politischer Gefangener unter dem Schah, stirbt unter mysteriösen Umständen, kaum dass er das Gefängnis verlassen hat. Der Mutter wird auf offener Straße mit Vergewaltigung gedroht, da sie keinen Schleier trägt.

Satrapi berichtet von den kleinen Normüberschreitungen, die Opposition bekunden, etwa wenn eine Frau unter dem Schleier eine Haarsträhne heraushängen lässt. Doch selbst das kann gefährlich sein. Als das Mädchen einmal eine enge Jeanshose trägt, greifen weibliche Revolutionswächter sie auf und verhören sie. Sie bettelt, sie lügt und kommt tatsächlich so davon. Ebenso wie die Auspeitschung fürchtet sie – wenn ihre Eltern davon erfahren sollten –, aller Freiheiten verlustig zu gehen. Es gibt kleine Fluchten durch Konsum, doch die Gesinnungsschnüffler haben große Befugnisse. Angst begleitet jeden Ausbruch aus dem drakonischen Normenkatalog.

Autobiografische Comics gibt es seit den Siebzigerjahren, mit einer kleinen Blüte zu Beginn der Neunzigerjahre. Zeichner – und einige wenige Zeichnerinnen – wollten individuelle Geschichten erzählen, die Kindheit, Pubertät und der banale Alltag der Erwachsenen waren allgegenwärtige Themen. „Persepolis“ unterscheidet sich davon, inhaltlich wie formal. Satrapis Zeichnungen sind stark stilisiert. Es gibt kaum individuelle Merkmale, Marjane und ihre Schulkameradinnen sehen unter den Kopftüchern gleich aus. Die Bilder haben nur eine reduzierte Perspektive, gerade bei Massenszenen benutzt Satrapi identische Köpfe und Körper. Die in Frankreich lebende Künstlerin nutzt also Stilmittel, die sie bei ihrer Arbeit als Kinderbuchillustratorin gesammelt hat. Die starke Egalisierung der Figuren befremdet, gewinnt aber Seite für Seite mehr an Logik, es ist die Geschichte des Landes, die Satrapi anhand eines Kindes erzählen will.

Für einen Comic setzt ihre Arbeit wenig auf Dynamik, sondern betont auf ungewöhnliche Weise die Fläche. Die Autorin will offenkundig nicht mitreißen, sondern berichten, ein überindividuelles Panorama schaffen. Nur einzelne ganzseitige Bilder fallen heraus, sie entwerfen poetische Visionen, etwa die Darstellung der letzten gemeinsamen Urlaubsreise nach Europa – mit einer auf einem fliegenden Teppich sitzenden Familie!

Satrapi erzählt aus der Perspektive eines Mädchens. Sie versteht manche Dinge nicht, konstruiert dann ihre eigene Welt. Die Autorin vermeidet dabei jegliche Idealisierung oder, was noch schlimmer wäre, jedes Schmunzeln. Das Mädchen ist kein kindischer Beobachter in der brutalen Welt der Erwachsenen, sondern ein hellwacher Beobachter von Widersprüchlichkeiten, wie die linke Haltung der Eltern und ihrer Großbürgerexistenz mit Cadillac und Hausmädchen. Die politischen Ereignisse kommentieren die Eltern, sie schulen ihre Tochter darin, den staatlichen Verlautbarungen nicht zu glauben. Die Einschätzungen der Eltern markieren allerdings auch den Horizont des Mädchens, ihr iranischer Nationalismus erfährt keine Einschränkung, ihre historischen Erklärungen werden nur sporadisch ergänzt. Als Geschichtsbuch taugt „Persepolis“ daher nur bedingt, als Oral History jedoch ist es ein wichtiges Dokument über den schleichenden Verlust der Freiheit im Iran.

Vor allem aber ist dieser Comic eine sehr schön erzählte Geschichte, die in Frankreich zu einem Überraschungserfolg wurde. Über 200.000 Exemplare von „Persepolis“ wurden dort mittlerweile verkauft. Die ersten zwei von bisher vier Bänden liegen nun auf Deutsch vor.

Marjane Satrapi: „Persepolis“. Edition Moderne, Zürich 2004, 164 S., 22 €; Arbeiten von Satrapi sind zurzeit in der Ausstellung „Entfernte Nähe. Neue Positionen iranischer Künstler“ im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen