Der Schulsport krankt

Haltungsschäden, verkürzte Muskeln, zu viel Körperfett. Der gesundheitliche Zustand vieler Kinder gibt Anlass zur Sorge. Eine bundesweite Studie zeigt, dass die sportliche Leistungsfähigkeit der 6- bis 18-Jährigen in den vergangenen acht Jahren um mehr als 20 Prozent abgenommen hat

VON CLAUDIA BORCHARD-TUCH

Kinder von heute leiden nicht mehr unter typischen Kinderkrankheiten. Moderne Medikamente und Impfungen haben viele der schweren Infektionskrankheiten, die noch vor einer Generation sehr häufig waren, gut in den Griff bekommen. Auf den ersten Blick wirkt die junge Generation so gesund wie nie zuvor. Deswegen lohnt sich der zweite Blick, der Problematisches offenbart. Waren Kinder früher noch rank, schlank und beweglich, sind sie heute eher fett statt fit.

Die Ursachen – Fehlernährung und Bewegungsmangel – sind typische Probleme der heutigen Zeit. Noch nie tranken Kinder so viel Limo und Cola wie heute, und noch nie wurde ihnen ein solches Überangebot an süßen und fettreichen Nahrungsmitteln präsentiert. Liefen die Kinder früher nach dem Mittagessen zum Austoben nach draußen, schalten sie heute zur Entspannung den Fernseher ein. Die Zeit danach verbringen sie vor dem Computer, und schließlich müssen sie ihre Hausaufgaben erledigen – ebenfalls im Sitzen.

So wird der natürliche Bewegungsdrang der Kinder durch eine unglückliche Gestaltung ihrer räumlichen und sozialen Lebenswelt eingeengt. Dabei werden den Kindern wichtige Erlebnisse vorenthalten. Denn durch Bewegung lernen Kinder ihre Umwelt kennen, sammeln Erfahrungen und können so ihre motorischen und geistigen Fähigkeiten entwickeln und ausbauen.

Dies macht sich bemerkbar. Haltungsschäden, verkürzte Muskeln, zu viel Körperfett: Der gesundheitliche Zustand vieler Kinder ist Besorgnis erregend. Rund 20 Prozent aller Jungen im Kindergartenalter in Nordrhein-Westfalen leiden an Störungen der Koordinationsfähigkeit. In Berlin ergab eine Studie der Freien Universität, die 400 Neun- bis Zwölfjährige untersuchte, dass jedes dritte Kind Haltungsschäden aufwies und jedes fünfte zu dick war. Eine bundesweite Untersuchung der AOK und des Deutschen Sportbundes zeigte, dass die sportmotorische Leistungsfähigkeit der 6- bis 18-Jährigen in den vergangenen acht Jahren um mehr als 20 Prozent abgenommen hat.

Manche Kinder können sogar einfachste Bewegungen nicht mehr ausüben – ein Purzelbaum wird zu einer nicht zu bewältigenden Schwierigkeit. Inzwischen tragen bereits Änderungen in den Lehrplänen für Sport der veränderten körperlichen Entwicklung Rechnung. So brauchen Brandenburger Schüler wegen der größeren Verletzungsgefahr – bedingt durch den veränderten Körperbau – nicht mehr Kopf zu stehen. Sportlehrer in Nordrhein-Westfalen haben sich jüngst dafür ausgesprochen, das Sumoringen im Schulsport stärker zu berücksichtigen – weil nahezu ein Viertel aller Kinder dick und unbeweglich ist.

Viele Eltern hegen die Hoffnung, dass die Bewegung in der Schule ein Ausgleich für das Sitzen am Nachmittag sein könne. Bewegung ist gesund – das wissen Pädagogen seit Jahren. Doch ob der jetzige Schulsport die an ihn gestellten Anforderungen erfüllen kann, ist fraglich. Denn es fehlt an Sportstätten und Geräten, und in den zwei Stunden Sportunterricht, die an deutschen Schulen durchschnittlich pro Woche gegeben werden, lassen sich keine großartigen Trainingseffekte erzielen. Eine weitere Schwierigkeit ist der Lehrermangel. Wie der Vorsitzende des Deutschen Sportlehrerverbandes, Hansjörg Kofink, feststellte, werden besonders in den ersten Schuljahren Lehrkräfte im Schulsport eingesetzt, die dazu nicht ausgebildet seien.

Hinzu kommt der Leistungsdruck, mit dem insbesondere die sportschwachen Schüler ihre Probleme haben. Wie Thomas Schiller, der als angehender Lehrer an der Liebig-Schule in Gießen Sport und Erdkunde unterrichtet, weiß, ist das traditionelle Sportartenkonzept meistens auf Leistung orientiert. Auch eine schlechte Sportnote wirkt demotivierend und führt zu noch mehr Bewegungsunlust. Wäre es möglicherweise sinnvoll, die Sportnote gänzlich abzuschaffen? Doch Sportlehrer wenden ein, dass ohne Leistungsdruck und Notengebung niemand ihr Fach ernst nehmen würde.

Eine Lösung der Problematik könnte eine flexiblere Gestaltung des Sportunterrichts sein. Dies wurde bereits von offizieller Seite erkannt. In einigen Bundesländern wurden neue Lehrpläne aufgestellt – wie beispielsweise in Hessen. Der Lehrplan soll ab dem kommenden Schuljahr gelten. Er geht davon aus, dass die Motive, warum sich Menschen dem Sport zuwenden, „sehr unterschiedlich sind“. Mit dem neuen Lehrplan wird versucht, alle Schüler gleichermaßen anzusprechen. Schüler sollen Lust am Sport bekommen – auch außerhalb der Schule und ein ganzes Leben lang.

Denn das regelmäßige Treiben von Sport hat viele positive Seiten. So kann Sport nicht nur den Körper in Schwung bringen, sondern auch das menschliche Miteinander fördern. Die Vorsitzende des Bundeselternrates, Renate Hendricks, erklärte: „Sport dient der menschlichen und sozialen Entwicklung jedes Einzelnen und der Gemeinschaft. Sportliche Aktivitäten können zudem zum sozialen Zusammenhalt und zur gegenseitigen Tolerierung verschiedener ethnischer und kultureller Minderheiten führen.“ Eine Studie der Karlsruher Universität wies nach, dass Kinder, die täglich Sport betreiben, nicht nur weniger Unfälle haben – auch heftige Aggressionen nehmen ab. Lehrer berichten über ein besseres Schulklima und Eltern über weniger Schulunlust.

Lehrpläne, die auf eine flexible Gestaltung des Sportunterrichts setzen, listen mehrere Aspekte auf, die sich mit einer individuellen Sinngebung verknüpfen lassen. Hierzu zählen beispielsweise Gesundheit, Körpererfahrung, Kooperation – aber auch die Förderung Begabter. Es ist bekannt, dass sich schon früh entscheidet, welches Kind ein Bewegungstalent wird – und welches nicht. „Grundfähigkeiten wie Reaktionsfähigkeit oder Schnelligkeit können nur bis zu einem Alter von ungefähr acht bis zehn Jahren entwickelt werden. Wer als 10-Jähriger nicht schnell ist, wird es auch mit 18 nicht sein“, erklärte Klaus Powilleit, der als Koordinator für die Talentförder- und Talentaufbaugruppen am Schulsportzentrum der Gießener Liebig-Schule mit 15 Grundschulen kooperiert.

Offenbar fehlt es beim Schulsport nicht am guten Willen, sondern eher am Geld. Mit diesem Problem steht Deutschland nicht allein da. Die Vernachlässigung des Sportunterrichts ist ein gesamteuropäisches Problem – dies erkannten bereits Experten der Europäischen Union (EU). Daher setzten sie sich zum Ziel, ein verkanntes Fach mehr in den Mittelpunkt zu rücken, und erklärten das Jahr 2004 zum „Jahr des Schulsports“. Die EU stellt hierfür Geldmittel in Höhe von 11,5 Millionen Euro zur Verfügung.

Denn Sport tut gut. Kinder benötigen dringend Bewegung, Spiel und Sport für ein gesundes Aufwachsen in und außerhalb der Schule. Wie Klaus Balster vom Landessportbund Nordrhein-Westfalen feststellte, ist Bewegung „die Grammatik des Lebens“.