„Schlecht für Irak, gut für die Welt“

INTERVIEW ERIC CHAUVISTRÉ

taz: Herr Chomsky, zwölf Monate sind seit dem Beginn der Invasion im Irak vergangen. Wie kann es sein, dass die nach globaler Herrschaft strebenden USA nicht einmal den Irak unter ihre Kontrolle bringen können?

Noam Chomsky: Das Scheitern der Besetzung kommt überraschend. Ich hatte einen Krieg erwartet, der vielleicht drei Tage dauern würde, gefolgt von der einfachsten militärischen Besetzung der Geschichte.

Einfach?

Zunächst einmal hat die Besetzung die zerstörerischen Sanktionen beendet. Und die Iraker wurden den Gangster Saddam Hussein los – was ein Gewinn für nahezu die gesamte Bevölkerung ist. Meiner Ansicht nach wäre die Bevölkerung ihn selbst losgeworden, hätte es nicht die Sanktionen gegeben. Aber das ist eine andere Frage.

Warum lief es so schief?

Ich bin davon überzeugt, dass es jedes Seminar an der Ingenieursfakultät hier bei uns am MIT geschafft hätte, das Stromnetz innerhalb einer Woche wieder in Betrieb zu nehmen. Auch das medizinische System hätte schnell repariert werden können. Eine Kombination von Arroganz, Inkompetenz und Ignoranz bei den US-Truppen führte ins Desaster. Das ist schlecht für Irak, aber hilfreich für den Rest der Welt.

Weil es die US-Regierung daran hindert, die Pläne für die nächste Aktion auszuführen?

Hätte sich die Besetzung des Irak als so leicht herausgestellt, wie andere militärische Besetzungen unter sehr viel schwierigeren Bedingungen waren, wären die US-Truppen jetzt möglicherweise schon in Iran einmarschiert. Jetzt ist es für sie schwer genug, wenigstens das zu halten, was sie schon haben.

Damit ist die Präventivkriegsdoktrin also erledigt?

Das Scheitern bei der Suche nach Massenvernichtungswaffen hat die Doktrin der Aggression verändert. Die ursprüngliche Doktrin, wie in der nationalen Sicherheitsstrategie formuliert, bestand darin, dass die USA erklärten, sie hätten das Recht, militärische Gewalt anzuwenden gegen jede potenzielle Bedrohung. Potenzielle Bedrohung sollte dabei heißen: Besitz von Massenvernichtungswaffen, die möglicherweise die Vereinigten Staaten bedrohen.

Das soll nicht mehr gelten?

Wenn Sie die Aussagen von Colin Powell und Condoleezza Rice lesen, ist das Kriterium für eine Aggression jetzt nur noch, dass ein Land die Fähigkeit und die Absicht hat, Massenvernichtungswaffen zu produzieren. Praktisch jedes Land hat die Fähigkeit. Und eine Absicht ist immer dort vorhanden, wo wir eine sehen. Die neue, sehr viel gefährlichere Doktrin lautet also: Wir verkünden das Recht, jeden zu jeder Zeit anzugreifen, ohne irgendwelche Gründe.

Können solche Interventionen nicht auch positive Nebenwirkungen haben?

Ja, selbstverständlich. Auch die russische Besetzung Osteuropas hatte positive Nebenwirkungen. Nehmen Sie Bulgarien. 1940 benutzten die meisten Bauern dort noch hölzerne Pflüge, 1990 hatte das Land eine Elektronikindustrie. Also gab es positive Nebenwirkungen. Auch die brutalsten Mörder dieser Welt tun Dinge, die positive Nebenwirkungen haben. Und viele Invasionen haben positive Nebenwirkungen.

Auch im Irak?

Die Besetzung ist darauf angelegt, positive Nebenwirkungen zu verhindern. Die wirtschaftlichen Programme des Vizekönigs Paul Bremer basieren auf Vorgaben, die kein souveränes Land je akzeptieren würde. Sie erfordern, dass die irakische Wirtschaft komplett für ausländische Übernahmen geöffnet wird. Dies bedeutet, dass sozioökonomische Planung woanders gemacht wird. Wenn die USA Regeln wie diese vor 200 Jahren akzeptiert hätten, würden wir dieses Gespräch nicht in einer schönen Universität führen. Sie würden mich womöglich draußen bei Cape Cod beim Fischfang interviewen.

Ende Juni wollen die USA die Souveränität an die Iraker übergeben.

Die US-Regierung hat absolut keine Absicht, die Souveränität zu übertragen. Sie besteht auf einem Stationierungsabkommen, das vorsieht, US-Truppen das Recht zu gewähren, dort zu bleiben und permanente Militärbasen einzurichten. Und sie baut im Irak gerade die weltweit größte US-Botschaft. Warum? Warum benötigen wir dort die größte Botschaft in der Welt? Eine Botschaft mit 3.000 Angestellten? Etwa, weil wir die Souveränität zurückgeben?

Bush begründet den Krieg jetzt damit, dass er Demokratie in den Irak und den Mittleren Osten gebracht habe.

Es bedarf einer extrem unterwürfigen intellektuellen Klasse, um diese Argumentation durchziehen zu können. Man muss dazu nicht nur darüber hinwegsehen, dass die USA im Irak Demokratie verhindern. Sie müssen auch darüber hinwegsehen, wie die USA im letzten Jahr ihre Verbündeten aufgeteilt haben: Als das „alte Europa“ charakterisierten sie die Länder, in denen die Regierung dieselbe Haltung annahm wie ein Großteil der Bevölkerung. Das „neue Europa“ waren die Länder, in denen die Regierung sich über eine sogar noch größere Mehrheit in der Bevölkerung hinwegsetzte und stattdessen den Befehlen aus Crawford, Texas, folgte. Ich habe selten solch ein Beispiel für Hass auf und Missachtung von Demokratie gesehen.

Das Nein wurde doch akzeptiert.

Nehmen Sie die Türkei. Dort hat die Regierung, zum Erstaunen aller, dieselbe Position bezogen wie etwa 95 Prozent der Bevölkerung. Colin Powell beschimpfte sie daraufhin und drohte mit dem Entzug von Hilfszahlungen, weil sie nicht demokratisch handele – das heißt, weil sie der Bevölkerung folgte und nicht dem, was wir ihr sagten. Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz ging noch weiter. Er prangerte die türkischen Militärs an, weil sie nicht einschritten, um die Regierung dazu zu zwingen, demokratisch zu sein – das heißt: das zu tun, was wir ihnen sagen, unabhängig davon, was 95 Prozent der Bevölkerung wollen. Und das ist derselbe Typ, der die Kampagne für Demokratie anführt.

Der Nahe Osten könnte eine Demokratisierung dennoch gut gebrauchen.

In dieser Region sind die meisten US-Verbündeten Diktaturen. Brutale und gewalttätige Diktaturen werden unterstützt. Es gibt allerdings einen politischen Führer, der in relativ freien und demokratischen, international kontrollierten Wahlen gewählt wurde. Wer? Jassir Arafat. Und was ist die Haltung der US-Regierung gegenüber Jassir Arafat? Er muss weg. Er muss eliminiert werden. Er ist irrelevant. Im Interesse der Etablierung der Demokratie beseitigen wir also denjenigen, der gewählt wurde und die Unterstützung der Bevölkerung genießt, und setzen jemanden ein, von dem wir erwarten, dass er das tut, was wir sagen.

Glauben Wolfowitz und die Neokonservativen eigentlich an das, was sie sagen?

Sie glauben daran, dass die Demokratie ein bösartiges und elendes System ist, das zerstört werden muss.

US-Interventionen gab es auch, als nicht die Neokonservativen, sondern eher liberale Demokraten die US-Politik bestimmten. Und der Kosovokrieg wurde auch von vielen linken Intellektuellen begrüßt.

Laut der offiziellen Parteilinie unter westlichen Intellektuellen wurde die Bombardierung Serbiens unternommen, um die schrecklichen ethnischen Säuberungen zu beenden. Der Kosovokrieg war demnach rein humanitär. Der altruistischste Akt der Geschichte! Die Literatur dazu ist durch zwei Aspekte gekennzeichnet. Erstens, sie lässt die gesamten Dokumente der OSZE, der Nato, des State Department und der britischen Parlamentsuntersuchung – alles unverdächtige Quellen – außen vor. Zweitens wird die historische Abfolge verdreht. Es gab furchtbare Säuberungen und Verbrechen. Aber sie waren Konsequenzen der Bombardierungen, noch dazu waren es erwartete Konsequenzen. Madeleine Albright, General Wesley Clark und andere haben dies einen Monat zuvor diskutiert: Wenn wir bombardieren, wird dies Reaktionen hervorrufen, darunter schwere Verbrechen, und es wird nichts geben, was wir dagegen tun können – außer noch mehr Bomben. Und genau das ist passiert.

Im November könnte wieder ein Demokrat Präsident werden. Was würde sich ändern, wenn John Kerry statt George W. Bush im Weißen Haus regiert?

Es gäbe leichte Veränderungen. Aber das politische Spektrum ist extrem eng. Was den Einsatz von Gewalt zur Dominierung der Welt angeht, stimmt es, dass die Bush-Regierung dies offensiv verkündet und auch gleich umgesetzt hat, damit auch jeder merkt: Die meinen es ernst. Aber diese Politik reicht weit zurück. In einem Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs hat Madeleine Albright dies sehr deutlich gemacht. Sie kritisiert darin die Bush-Regierung für die Art, wie sie ihre Strategie präsentiert hat. Man solle den Leuten nicht erzählen: Wir greifen euch an, jedes Mal, wenn uns danach ist. Das ist nicht Diplomatie. Man macht es leise. Die Kritik an der Bush-Politik innerhalb der außenpolitischen Elite in den USA betraf den Stil, nicht den Inhalt.

Vor einem Jahr gab es auch in den USA Proteste gegen den Irakkrieg. Davon scheint nicht viel übrig zu sein.

Man kann halt nicht mehr dagegen protestieren, einen Krieg im Irak zu beginnen. Das ist bereits passiert. Aber die Bewegung existiert und ist sehr lebendig.

Und was sollte auf ihrer Agenda stehen?

Alles, von der Forderung, die irakische Bevölkerung statt Paul Bremer und Paul Wolfowitz den Irak kontrollieren zu lassen, bis hin zum Wiederaufbau einer funktionierenden demokratischen Kultur in den USA.