„Nehmt die Köpfe aus dem Sand“

Sagt der israelische Zeitungskorrespondent Eldad Beck. Denn Deutschland will auch im Nahen Osten eine führende Rolle spielen. Aber dann darf es nicht vergessen, warum Israel existiert – und warum es die einzige Demokratie in der Region schützen muss

VON ELDAD BECK

Ein paar Tage vor Silvester, bekam ich einen Anruf von einem Unbekannten. Die Person stellte sich, sehr freundlich, als Besitzer einer Buchhandlung in einer kleinen deutschen Stadt vor. Wir sind uns weder zuvor begegnet noch hatten wir miteinander gesprochen. Und bis heute weiß ich nicht, was meinen einmaligen Gesprächspartner dazu motiviert hat, meine Nummer herauszufinden und mich anzurufen – gerade in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, in der so viele Menschen etwas Ruhe suchen und der Aktualität entfliehen.

„Ich habe in den Zeitungen über die israelische Piloten gelesen, die ihren Militärdienst in den palästinensischen Gebieten verweigern“, erzählte er mir. „Ich wollte meine Meinung dazu äußern, und fragen, wie man diese Leute unterstützen kann“, sagte er weiter. Bevor ich die Möglichkeit hatte, ihn zu fragen, wo und was genau er über dieses Thema gelesen hatte, fuhr er fort: „Wissen Sie, ich interessiere mich sehr für die Zeit des Dritten Reiches. Ich weiß, wie grausam und schrecklich sie gewesen ist. Mein Großvater und mein Vater haben mir beide erzählt, wie das Leben damals war. Sie haben immer betont, dass alle genau gewusst hätten, was mit den Juden passierte. Alle hätten alles gewusst. Aber niemand hätte den Mut gehabt, den Mund aufzumachen. Alle hätten gewusst, dass denjenigen, die protestieren würden, Strafe drohte: Gefängnis oder Exekution. Und die Leute protestierten nicht. Ich erlaube mir, so einen Vergleich zu ziehen, denn ich habe vollen Respekt vor den Menschen in Israel, die deutlich sagen, was sie denken, wissend welch hohen Preis sie dafür bezahlen werden. Ich schätze die Tatsache sehr, dass sie bereit sind, gegen die Mehrheit zu stehen. Ich meine, es ist sehr wichtig, sich so zu verhalten. Deshalb wollte ich als Deutscher Ihre Meinung hören.“

Ich war gerade dabei meinen Koffer zu packen, da ich mir eigentlich Urlaub vom ganzen verdeutschten Nahostkonflikt nehmen wollte. Obwohl Deutschland von unserem „Krisengebiet“ so weit weg ist, muss ich – als israelischer Deutschlandkorrespondent – immer wieder mit dem großen Interesse vieler Deutscher an unserem Konflikt beschäftigen – als wären sie eine beteiligte Partei. Es gibt andere tragische Krisen auf der Welt, aber – nein – in Deutschland ist man von der Lage im heiligen, blutigen Land direkt betroffen. Wie es auch mein Gesprächspartner war.

Schweigend hatte ich ihm zugehört, ohne mich entscheiden zu können, ob ich eine neue politischen Diskussion lancieren will. Auch Israelis brauchen ab und zu Ruhe. Dann aber, wegen Neujahr und vor allem deswegen, weil es heutzutage so selten ist, dass ein Deutscher nach meiner Meinung fragt, anstatt mir seine aufzudrängen, entschloss ich mich zu reagieren.

Normalerweise wissen die Leute hier im Lande genau, was in meinem Land passiert: Wer gut sei, wer böse, wer Recht habe und wer schuldig sei. Die Tatsachen interessieren niemanden. Hauptsache, man kann sich auf die Meinung irgendeines skrupellosen „Nahostexperten“ oder eines „Terrorexperten“, der ursprünglich die Geschichte des ägyptischen Kinos studiert hat oder – noch besser –, der weder Arabisch noch Hebräisch spricht. Und plötzlich will einer wissen, was ein Israeli denkt.

„Bei allem Respekt“, antwortete ich, „man kann Israel mit Nazideutschland wirklich nicht vergleichen. Deutschland war damals eine Diktatur, in der tatsächlich Menschen in Konzentrationslager geschickt oder ermordet wurden, weil sie anders dachten als das Regime. Israel – ganz im Gegensatz – ist eine sehr lebendige Demokratie, in der jeder seine Meinung über alles äußern kann – auch wenn es um die sensibelsten Themen geht. Die kleinsten politischen Minderheiten – wie die Gruppe der verweigernden Piloten – haben Zugang zu allen Medien, in denen sie – unproportional zu ihrem zahlenmäßigen Gewicht in der Gesellschaft – große Schlagzeilen bekommen.“

Ich versuchte zu erklären, dass trotz aller existenziellen Probleme die Freiheit der politischen Diskussion in Israel ein Beispiel für viele europäische Länder sein könne – Deutschland inklusive. „Hätte die deutsche Öffentlichkeit die Chance gehabt auf eine objektive, faire und fachliche Berichterstattung über die Lage in Israel und im Nahen Osten, vielleicht hätten Sie dann auch gewusst, dass die Heldenpiloten nicht mehr im aktiven Dienst und keine von einer nahöstlichen, militärischen Junta unterdrückten Freiheitskämpfer sind“, sagte ich.

„Was aber kann man tun, um die unendliche Gewalt in ihrer Region zu stoppen?“, sorgte sich der Mann. „Man könnte nach den Terrorverweigerern bei den Palästinensern oder den Diktaturverweigerern in Syrien oder den Kämpfern für Frauenrechte in Saudi-Arabien fragen“, schlug ich vor.

Der Buchhändler sagte zunächst nichts. Dann bedankte er sich für das Gespräch. „Sie haben mir Stoff zum Nachdenken gegeben“, gestand er ein und wünschte mir und allen Israelis ein schönes neues Jahr 2004.

Viele Israelis, die in Deutschland oder in Europa leben, werden häufig mit Leuten konfrontiert, die meinen, irgendetwas über Israel, Scharon, die „Mauer“ oder die „miserable“ Lage der Palästinenser zu sagen zu haben. Oft wollen diese Schlaumeier nicht diskutieren, debattieren, oder sich erkundigen. Sie wollen predigen. Denn sie glauben zu wissen, dass der Friedensprozess durch den Mörder Jitzhak Rabins gestoppt wurde (über die vor dem Tod Rabins von Palästinensern verübten Selbstmordattentate haben sie nichts gehört). Sie meinen, dass man mit dem Iran einen „kritischen Dialog der Kulturen“ führen müsse und dass Israel den Frieden in der Welt mit seiner militärischen und atomaren Macht bedrohe. Sie betonen, dass Israel Staatsterrorismus ausübe, gleichzeitig nennen sie die mörderischen Attentäter von Hamas und Dschihad „Freiheitskämpfer“, „Radikale“, „Militante“. Es ist für sie schwer, sich das Wort „Terrorist“ in diesem Zusammenhang vorzustellen.

So überrascht es nicht mehr, wenn eine große deutsche Tageszeitung, wie vor kurzem geschehen, titelt: „Brauchen wir Israel noch?“ Könnte diese seriöse Zeitung einen Artikel mit dem Titel „Braucht man Österreich noch (oder Belgien oder Burkina Faso)?“ veröffentlichen? Nicht wirklich. Aber im Falle Israels gilt die „Sonderbehandlung“.

Anfang September wurde ich von „FN Deutschland e.V.“ zu einer Diskussion über das Thema „Zwischen ‚Roadmaps‘ und Straßensperre: Welche Rolle kann Deutschland im palästinensisch-israelischen Konflikt spielen?“ eingeladen. Die FN Deutschland, falls Sie es nicht wussten, ist nicht die lokale Vertretung von Le Pens Front National, sondern ein Verein von Reserveoffizieren des Bundeswehr-Feldnachrichtendienstes, die unter anderem Arabisch studieren. „Der FN Club hat sich zum Ziel gesetzt, das Interesse und die Kompetenz seiner Mitglieder, insbesondere in außen- und wirtschaftspolitischen Fragen, zu bündeln, um hierdurch einen interkulturellen Gedanken- und Erfahrungsaustausch zu ermöglichen“, erklärten die Organisatoren.

Als ich fragte, ob ihnen die Teilnehmerliste ausgewogen erschien (2 Palästinenser, 1 Israeli, 1 Deutscher), sagte man mir: „Wie kann man in diesem Konflikt ausgewogen sein?“ Deswegen gaben sie dem PLO-Vertreter in Deutschland – der mit der historischen Wahrheit nicht sehr befreundet ist – die Möglichkeit, 40 Minuten seine Propaganda zu verbreiten. Ich durfte nicht direkt darauf reagieren, sondern nur in einem Podiumsgespräch über die Rolle Deutschlands im Nahen Osten teilnehmen. Wie kommt es dazu, dass derjenige, der nicht ausgewogen sein kann, sich eine führende Rolle in Krisengebieten wünscht?

Die Deutschen sind auf dem Weg, sich eine neue nationale Identität zu suchen und eine wichtigere Position in der Welt einzunehmen. Man sollte aber deshalb nicht versuchen, sich die Gegenwart so vorzustellen, als gäbe es keine Vergangenheit. Vielen Deutschen fällt es nicht schwer, zu vergessen, warum Israel überhaupt existiert. Wir Israelis können und wollen es nicht vergessen. Nicht, weil wir uns an diese Erinnerung klammern oder sie benutzen wollen, sondern weil diese Vergangenheit unsere Realität ist. Wir können zum Beispiel nicht verstehen, wie man in Europa die Stimmen überhören kann, die in der arabischen und muslimischen Welt zur Vernichtung Israels und des Judentums aufrufen.