Früher Folterkeller, bald Museum

AUS BUENOS AIRES INGO MALCHER

Die Casa Rosada ist ein stolzer Bau. Die Front des argentinischen Präsidentenpalasts ist erdbeereisrot gestrichen, vom Balkon des Präsidentenbüros hat man einen schönen Blick auf die davor liegende Plaza de Mayo. Jeden Donnerstagnachmittag um halb vier treffen sich dort die Mütter der Plaza de Mayo und demonstrieren. Seit 28 Jahren. Zu Zeiten der Militärdiktatur demonstrierten sie auf der Plaza, weil ihre Töchter und Söhne von den Militärs verschleppt worden waren. Nach Argentiniens Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1983 kamen die Mütter auf die Plaza de Mayo, weil die nachfolgenden demokratischen Regierungen die Mörder ihrer Kinder hatten laufen lassen.

Kein Wunder also, dass Hebe de Bonafini niemals denen traute, die in der Casa Rosada regierten. Für die Präsidenten ihres Landes hatte die populäre Sprecherin der Mütter der Plaza de Mayo immer griffige Umschreibungen parat. Den ersten Präsidenten nach Argentiniens Rückkehr zur Demokratie, Raúl Alfonsín, nannte sie einen „Verräter“. Sein Nachfolger Carlos Menem war für Hebe de Bonafini ein „Hurensohn“. Ihm folgte mit Fernando de la Rúa ein „Feigling“. Dieser wurde mit Übergangspräsident Eduardo Duhalde von einem „Mafioso“ abgelöst.

So muss es verwundern, dass die streitbare Dame für das derzeitige Staatsoberhaupt Néstor Kirchner ganz andere Worte findet. Als Kirchner seinen Amtseid leistete, hatte de Bonafini noch geätzt, er sei „dieselbe Scheiße“ wie der Rest der politischen Klasse. Doch als sie am Donnerstag letzter Woche mit einem Megaphon unter dem Arm auf der Plaza de Mayo steht, sagt die 78-Jährige: „Kirchner macht viel von dem, was wir wollen.“ Hebe de Bonafini betritt die Casa Rosada nicht mehr als Anklägerin, sondern als Verbündete der Regierung.

Etwas hat sich geändert in Argentinien, seit Néstor Kirchner im Mai letzten Jahres in die Casa Rosada eingezogen ist. Am Anfang waren es freilich große Sprüche: Kirchner prangerte die „Kultur der Straflosigkeit“ an, die in Argentinien herrsche. Doch dann schickte er die komplette Militärführung in Pension, kurz darauf entließ er die Spitze der Polizei. In einer Rede vor jungen Rekruten erinnerte er an die Verbrechen der Diktatur von 1976 bis 1983, bei der die Militärs über 10.000 Menschen ermordet haben. Und Ende vergangenen Jahres machte er Ernst. Auf sein Betreiben hin hoben Kongress und Senat die Amnestiegesetze auf. Jetzt ist es am Obersten Gerichtshof, ebenso zu entscheiden. Erst dann können in Argentinien gegen 2.600 so genannte Diktaturmilitärs Verfahren eröffnet werden.

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist in Argentinien unter Kirchner Regierungspolitik geworden. Wenn morgen der 28. Jahrestag des Militärputsches begangen wird, ziehen nicht nur Menschenrechtsorganisationen und linke Gruppen auf die Plaza de Mayo. Auch die Regierung nimmt an den Gedenkveranstaltungen teil. Und Kirchner ist gerade dabei, auch das nächste Tabu zu brechen: Der Präsident wird die Mechanikschule der Marine, kurz ESMA, in ein Museum umwidmen, in dem der Opfer der Diktatur gedacht werden soll.

Die Abkürzung ESMA steht in Argentinien für unsagbares Grauen. Die Kaserne war das größte Gefangenenlager der Militärs, unter dem Offizierskasino war der Folterkeller eingerichtet. Dort ketteten die Militärs ihre Opfer auf ein Drahtbett und verabreichten ihnen am ganzen Körper Stromschläge, die höllisch schmerzten, die Opfer aber gerade noch am Leben ließen. Selbst einen Trakt für Schwangere gab es in der ESMA. Im Kreißsaal des Gefangenenlagers gebaren die Frauen ihre Kinder, ehe sie selbst ermordet wurden. Die Babys wurden mit neuer Identität ausgestattet und an Militärfamilien gegeben. Viele Fälle von Kindesentführung sind bis heute nicht aufgeklärt.

Trotz ihrer grauenvollen Geschichte dient die ESMA bis heute als Kaserne. Das Hauptgebäude liegt an der edlen Avenida del Libertador, im Norden von Buenos Aires. Vor dem Zaun steht ein Wachhäuschen, dahinter patrouillieren Soldaten mit Schnellfeuergewehren. Jeden Morgen marschieren von dort Rekruten mit Karabinern zum Übungsplatz.

Noch nie seit der Rückkehr des Landes zur Demokratie im Jahre 1983 hat ein argentinischer Präsident die ESMA besucht. Letzten Mittwoch erschien Kirchner dort mit einer Abordnung von 26 ehemaligen Gefangenen. Den Besuch hatten die einstigen Häftlinge an eine Bedingung geknüpft: Kein Militär solle sie dort empfangen. Kirchner willigte ein und ließ sich von den Häftlingen durch die Stätte des Grauens führen.

Da ist wohl viel Symbolik im Spiel. Denn konkrete Veränderungen kommen nur schleppend in Gang. Rodolfo Yanzón steht, bekleidet mit rosa Hemd und schwarzem Sakko, vor dem Strafgericht von Buenos Aires in der Comodoro-Py-Straße. Der Rechtsanwalt vertritt zahlreiche ehemalige ESMA-Häftlinge und hat gerade beim Ermittlungsrichter den Antrag gestellt, zehn ehemalige Diktaturmilitärs zu verhören, unter ihnen auch der „Todesengel“ genannte Agent Alfredo Astiz. Insgesamt will Yanzón die Militärs zu 250 Taten wie Folter, Entführung, Mord und Verschwindenlassen befragen. Die Entscheidung steht noch aus. „Es gibt einen politischen Willen, die argentinische Vergangenheit aufzuarbeiten“, sagt er etwas steif in ein Dutzend Fernsehkameras. „Dem müssen aber auch Taten der Justiz folgen.“

Yanzón wurde als Anwalt der Liga für Menschenrechte bei nahezu allen Präsidenten in der Casa Rosada vorstellig. Vor zwei Wochen war er auch anderthalb Stunden lang bei Kirchner. Er sagt: „Mit Kirchner hat sich vieles verändert: Es gibt Druck von der Politik auf die Gerichte.“ Seit Kongress und Senat auf Kirchners Betreiben die Amnestiegesetze aufgehoben haben, sind gegen 50 Militärs Haftbefehle ausgestellt und Verfahren eröffnet worden. Yanzón selbst arbeitet in zahlreichen dieser Verfahren. Er erzählt, in der Casa Rosada habe Kirchner zu ihm gesagt: „Es gab hier Staatsterrorismus.“ Das sind deutliche Worte eines Präsidenten. Einerseits.

Andererseits sagt Yanzón: „Es gibt viel Rhetorik, aber es fehlen die Taten.“ Denn die Verfahren gegen ehemalige Diktaturmilitärs sind Mammutfälle. Ermittelnde Richter räumen selbst ein, dass sie damit überfordert sind. „Die Gerichte brauchen mehr Geld und mehr Möglichkeiten für die Ermittlungen“, sagt Yanzón. Statt eines Staatsanwaltes müssten sich fünf hinter diese Fälle klemmen, die Richter bräuchten eine ganze Heerschar von Ermittlern. Sonst drohten die Verfahren in der Justizbürokratie stecken zu bleiben. „Hierfür muss“, so Yanzón, „die Regierung die nötigen Entscheidungen treffen.“

Auch im Fall des Diktaturmuseums in der ESMA sind viele Dinge noch unausgegoren. Zwar steht fest, dass die Marine aus dem Gebäude ausziehen muss. Die Frage lautet aber: Was dann? Yanzón und die Liga für Menschenrechte schlagen vor, das Gebäude in ein staatlich finanziertes Museum umzuwandeln. Andere Menschenrechtsorganisationen wollen ein Aktionszentrum, die Mütter der Plaza de Mayo eine Kunstakademie betreiben.

Doch eilig mit dem Einzug in die ESMA haben es die Mütter der Plaza de Mayo nicht. Wenn Kirchner heute in der ESMA der Opfer der Diktatur gedenkt, bleiben die Mütter draußen auf der Avenida del Libertador. „Solange dort auch nur ein Militär ist, setzen wir dort keinen Fuß hinein“, sagt Hebe de Bonafini.

Denn zu weit gehen wollte de Bonafini in ihrer Freundschaft zu Kirchner denn doch nicht. Als sie bei einem Besuch in der Casa Rosada vor zwei Wochen plötzlich ohne Kopftuch vor dem Präsidenten stand, da wunderten sich viele, dass sie das Symbol ihrer Rebellion gegen die Obrigkeit abgelegt hatte. Aber es handelte sich nicht um eine Unterwerfungsgeste. „Als ich in die Casa Rosada kam, haben mich die Leute stürmisch begrüßt und geküsst“, rechtfertigt sich de Bonafini. „Mein Kopftuch war danach voller Rouge und Lippenstift, da habe ich es lieber abgenommen.“