Techtelmechtel und Abstiegsangst

Ein postmodernes Theaterstück, auch als Sandmännchen benutzbar: In der fünften Staffel der Reality-Show „Big Brother“ ist ordentlich was los

Wenn man sich die Texte durchliest, die bislang über die selbstbewusst mit einem großen V. gestartete Mutter aller Reality-Shows erschienen sind, hat man den Eindruck einer klassenspezifischen Rezeption des Reality-Spektakels, in dem das Trivialste – die Dreiteilung der Klassengesellschaft – zugleich annonciert und reflektiert und trivialisiert wird. Die Gebildeten langweilen sich, sind ein bisschen empört über das ihnen leichtfertig erscheinende Spiel mit der sozialen Ungleichheit, die Boulevardzeitungen berichten wie immer freudig erregt, und die Fans, nun ja, sie gucken’s.

Während die zweite und dritte Staffel von „Big Brother“ quotenmäßig schwächelten, die vierte Staffel („The Battle“) halbwegs erfolgreich war, scheint die fünfte, die ein Jahr dauern soll, wieder ein Renner zu werden. Unter den 20.000 Menschen, die sich für die Show beworben haben, sind 800 Akademiker. Die Konkurrenzsituation wurde verschärft. „Reiche“, „Normale“ und „Survivor“, die in durch Gitter voneinander abgetrennten Bereichen wohnen, gucken sich hämisch oder neidisch beim Leben zu.

Die einen können 750 Euro am Tag verballern, die anderen müssen im Schlafsack übernachten und angeekelt Gänse rupfen, wenn sie sie essen wollen. Über die Benennung der Klassen könnte man lange philosophieren. Die bühnenbildnerische Gestaltung der Wohnbereiche, die innenraummäßige Klischierung von Reichtum, Armut und einer abstiegsängstlichen Mittelklasse, ist gut gelungen. Manche Einstellungen des Normalbereichs erinnern an Hitchcock-Filme.

Die zwei Moderatoren kommen auch beim Unsinnreden angenehm unangestrengt rüber. Die Bewohner sind interessant, weil sie anders sind als man selbst oder die Leute, mit denen man zu tun hat. Und in ihrer Andersheit sind sie in manchem doch gleich. Das verbindet.

Im Sinne einer interessanten Abendunterhaltung wurde gut gecastet: Kader Loth arbeitet als Nacktmodell und war mal Miss Penthouse; Sascha C., 26, hat bereits für Diesel und Calvin Klein gemodelt; Jerry, der Industriemechaniker, ist auch Showdancer und Stripper; Sascha M. ist arbeitsloser Altenpfleger; Franziska steht auf One-Night-Stands; Janine findet das Projekt gut, ist frech und lasziv und hatte mal mit einem Prominenten rumgemacht, der, sagt sie, fünfmal gekommen sei. Herzlos-Luder-Sandra kam schnell als „Rabenmutter“ in die Schlagzeilen. Die Stripperin hatte allen beweisen wollen, dass sie eine „geile Berlinerin“ ist, ihren zweijährigen Sohn für die Dauer des Aufenthalts zu den Großeltern gegeben und im Container ein Techtelmechtel angefangen. Politiker und Boulevardzeitungen waren empört.

Dass die Produktionsfirma Endemol dann das zweijährige Würmchen kurz in den Container schickte, um seine Mutter zu besuchen, die dann auch ordentlich weinte, schien supersadistisch. Vergangenen Donnerstag entschied dann der betreuende RTL 2-Psychologe, Sandra müsse nun raus, weil sie der Situation nicht gewachsen sei.

In den Interviews danach kam raus, dass Sandras Sohn schon seit einem halben Jahr bei den Großeltern wohnt und dass sie noch ein zweites Kind hat, das sie gleich nach der Geburt weggab. Und sonst? Wehrpflicht und Zivildienst sollen ja jetzt abgeschafft werden, deshalb läuft Big Brother nun ein Jahr. Es wurde schon ziemlich am Anfang den Trieben nachgegeben. Man sollte vielleicht versuchen, das ernst zu nehmen, was aufklärerisch sein könnte: Die Frau, die im Penthouse posierte, mag etwa zwar ganz gut aussehen, aber nervt doch eigentlich – das sieht doch ein jeder!

Überhaupt sollte man „Big Brother“ vielleicht eher wie ein postmodernes, interessant besetztes Theaterstück anschauen, die Sendung nicht mit Erwartungshaltungen überfrachten, sie manchmal eher nebenbei, manchmal ganz konzentriert gucken und die Bewohner als pflegeleichte Mitbewohner respektieren.

Man kann sie auch als Sandmännchen benutzen. Ist doch schön, grad als Junggeselle, wenn man beim Ins-Bett-Gehen im Fernseher den Bewohnern beim Ins-Bett-Gehen zuschauen kann.

DETLEF KUHLBRODT