Lulas konservatives Krisenmanagement

Brasiliens Mitte-links-Regierung steckt derzeit in ihrer schwersten Krise. Spielraum für Reformen wird immer geringer

RIO DE JANEIRO taz ■ „Es waren die schlimmsten 32 Tage meines Lebens“, gestand José Dirceu an seinem 58. Geburtstag vorvergangene Woche. Das will etwas heißen: 1969, während der Militärdiktatur, war der Studentenaktivist durch die Entführung des damaligen US-Botschafters aus dem Gefängnis freigepresst und nach Kuba ausgeflogen worden. In den Siebzigerjahren lebte er mit neuer Identität in der brasilianischen Provinz. Ab 1995 bahnte er als Chef der Arbeiterpartei PT Luiz Inácio Lula da Silva den Weg in den Präsidentenpalast von Brasília, wo er seit Januar 2003 jene politischen Allianzen schmiedet, die Lulas ehrgeizige Reformpläne mittragen sollen.

„Ich kann mich nicht damit abfinden, dass ich so inkompetent war, dieses Problem nicht erkannt und gelöst zu haben“, fügte Dirceu hinzu. Das „Problem“ heißt Waldomiro Diniz, einer von Dirceus wichtigsten Helfern. Am 13. Februar war bekannt geworden, dass Diniz – damals Direktor der staatlichen Lotteriegesellschaft in Rio – 2002 einem Glücksspielunternehmer geholfen hatte. Die Entlassung des versierten Strippenziehers half wenig. Seither wirkt die Regierung Lula wie gelähmt.

Als im Senat genug Unterschriften für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss gesammelt waren, zog Senatspräsident José Sarney die Notbremse, indem er sich weigerte, Mitglieder aus dem Regierungslager zu benennen. Dennoch wurde bekannt, dass Dirceus halbseidener Berater auch 2003 in seiner früheren Branche tätig war: Vor einem Jahr verhandelte der US-Multi Gtech mit der staatlichen Sparkasse CEF über eine Vertragsverlängerung im Bereich Lotto-Logistik. Diniz versuchte für einen guten Bekannten, Rogerio Tadeu Buratti, einen Beratervertrag in Millionenhöhe herauszuschlagen.

Dazu kam es nicht. Buratti entpuppte sich ebenfalls als langjähriger Weggefährte prominenter PT-Politiker: 1987 war er Mitarbeiter Dirceus im Landesparlament von São Paulo, 1991 wechselte er zu dessen Kollegen João Paulo Cunha, derzeit Präsident des Repräsentantenhauses. 1994 wurde er wegen einer Korruptionsaffäre aus der Stadtregierung von Riberão Preto entlassen – von Bürgermeister Antonio Palocci, heute als Finanzminister ein Garant für Brasiliens neoliberale Wirtschaftspolitik.

Durch Geschäfte mit vorzugsweise von der PT geführten Stadtverwaltungen wurde Buratti Millionär. Solche Enthüllungen bringen Lulas Popularität ins Wanken. Der Chef des liberalen Koalitionspartners fordert wegen der anhaltenden Stagnation den Rücktritt des Finanzministers, der parteilose Agrarminister beschimpft einen Kabinettskollegen als „Nichtsnutz“.

Lula selbst sucht auf Reisen in die Provinz Rückendeckung bei Gouverneuren der oppositionellen Sozialdemokraten. Per Dekret ließ er über 1.000 Bingohallen schließen. Im Parlament ist die Regierung mehr denn je der Zentrumspartei PMDB um José Sarney ausgeliefert. Eine fortschrittliche Politik wird dadurch unwahrscheinlicher. Bischof Mauro Morelli, kompetenter Kritiker von Lulas Antihungerprogramm Fome Zero, warnt: „Selbst wenn der Regent gerecht und heilig ist – ohne die aktive Beteiligung der Bürger wird er kaum der Bürokratie und der Korruption entkommen.“ In der Arbeiterpartei werden Forderungen nach einer wirtschaftspolitischen Wende immer lauter.

Nicht einmal die Außenpolitik hilft Lula weiter: Als er jüngst zum Treffen mit Néstor Kirchner in Rio anreiste, zwangen ihnen demonstrierende Bingo-Arbeitslose, das Hotel Copacabana durch den Hintereingang zu betreten. Ein geplantes Mittagessen mit dem argentinischen Kollegen sagte er ab. Bei der Erklärung über ein gemeinsames Vorgehen gegenüber dem IWF bremsten die Brasilianer: Unruhe auf den Finanzmärkten ist das Letzte, was Lula derzeit brauchen kann. GERHARD DILGER