Der Astronaut und die Schildlaus

Ein Blitz fährt in einen Baum, ein Mann spaltet sich in zwei Hälften, und die Erde, die dem Film seinen Namen gibt, ist feindliches Terrain und zugleich Seelenspiegel. „Tierra“, eine frühe Arbeit des spanischen Regisseurs Julio Medem, kommt mit acht Jahren Verspätung auch in Deutschland ins Kino

VON BETTINA BREMME

Am Anfang herrscht Finsternis. Eine körperlose Stimme raunt: „Der Tod ist nichts, aber wenn du tot wärest, würdest du mich nicht hören.“ Dann rast der Blick durch ein von fahlen Fixpunkten beschienenes Universum, durchbricht eine schweflig-braune Wolkendecke und stürzt sich auf ein Mosaik aus rostroten Feldern. Donner und Blitz, Pflanzenstümpfe, sintflutartiger Regen. Und fortwährend ist diese Stimme zu hören. Sie spricht zu einem Mann namens Ángel: „Ich bin der Teil von dir, der gestorben ist, und ich spreche zu dir aus dem Kosmos. Ich bin halb Mann, halb Engel, halb lebendig, halb tot.“

Dann bekommen wir Ángel zu Gesicht (Carmelo Gómez), einen Mann in den Dreißigern. Er steuert einen weißen Lieferwagen durch brachliegende Felder. Plötzlich bremst er. Ein Lamm steht auf der Landstraße. Den Hirten hat der Blitz getroffen. Als Ángel sich dem Sterbenden nähert, wacht dieser noch einmal kurz auf: „Wo bin ich? Ich fühle mich, als ginge ein Loch durch meinen Kopf.“

Wer ist dieser Ángel? Ein überirdisches Wesen (der Name bedeutet „Engel“)? Oder ist er schizophren? Worin schließlich besteht Ángels Mission in der Einöde der Felder? Er steuert ein Bauernhaus an. Dort trifft er eine Frau, der der Weltschmerz ins Gesicht geschrieben steht (Emma Suárez). Ángel stellt sich als Ungeziefervernichter vor, der den Auftrag hat, die umliegenden Weinberge von einer Schildlausplage zu befreien. Als er sich verabschiedet, erfährt er den Namen der Frau: Angela.

Der 1958 im baskischen San Sebastián geborene Regisseur Julio Medem („Vacas“, „Die Liebenden des Polarkreises“, „Lucía und der Sex“) liebt das Spiel mit enigmatischen Zufällen. Leben und Tod, Erde und Kosmos, Einsamkeit und Sehnsucht nach Verschmelzung, sexuelles Begehren und Seelenverwandtschaften. Die Grenzen zwischen Realität und Imagination, Traum und Wahn sind fließend. Verstärkt wird das Gefühl des Labyrinthischen dadurch, dass sich immer wieder Identitäten vermischen oder dass sich jemand in mehrere Teile spaltet wie Ángel. Die beiden Frauen, die um Ángels Liebe rivalisieren, erinnern auf den ersten Blick an die Stereotype von Hure und Heiliger. Glücklicherweise bricht Medem im Verlauf des Films damit. Die Erde, die dem Film ihren Namen gibt, ist feindliches Terrain und Seelenspiegel zugleich. Die rostrote Krume der endlosen Felder hat etwas Apokalyptisches. Im Erdreich verrichten Schildläuse ihr zerstörerisches Werk. Oben, unter dem elektrisch aufgeladenen Firmament, verlieren sich die Menschen wie Mikroben. Bescheidene Gehöfte ducken sich im Wind. Krüppelige Pflanzen, Schafskadaver und ein vom Blitz verkohlter Trecker erinnern die Lebenden an ihre Vergänglichkeit. Wenn der Ungezieferjäger Ángel und seine Hilfskräfte in weißen Schutzanzügen ausrücken, um mit Giftschwaden das Erdreich von Parasiten zu befreien, wirken sie wie Astronauten auf einem feindlichen Planeten. Gibt es ein anderes Entkommen von hier als den Tod?