Mit der Bratpfanne denken

Der Historiker Paul Nolte leistet als Essayist Ungewöhnliches: Er verbindet die präzise Analyse der deutschen Klassengesellschaft mit seinen konservativen, ja elitären Wertvorstellungen

VON ULRIKE HERRMANN

Paul Nolte ist ein bekannter Essayist, der von FAZ bis taz und Zeit fast alle Medien bedient. Der 40-jährige Geschichtsprofessor aus Bremen scheint zu faszinieren, aber warum? Sein neuer Essayband „Generation Reform“ bietet einen Überblick.

Nolte ist interessant, weil er es wagt, eine offenkundige Tatsache auszusprechen: Deutschland ist eine Klassengesellschaft. Bildung und Besitz sind keineswegs gleich verteilt, sondern sozusagen erblich. Gleichzeitig driften die Einkommen aus selbstständiger und unselbstständiger Arbeit immer weiter auseinander.

Schon vor mehr als 25 Jahren hat Heiner Geißler diese „neue soziale Frage“ entdeckt, aber davon spricht niemand mehr, stattdessen ist ein eigenartiges Phänomen zu beobachten: Obwohl sich die Gesellschaft spaltet, leugnen die Parteien im Bundestag diesen Prozess. Sie umwerben lieber eine fiktive „Mitte“.

Wie kann das sein? Nolte erklärt es unter anderem damit, dass die Einwanderer den „Deutschen“ oft suggerierten, sie würden schon deshalb nicht mehr zu den Unterprivilegierten gehören, weil sich eine neue Unterschicht herausgebildet hat, die noch chancenloser ist als sie selbst. Zudem wurden in der Ära Kohl nicht nur die Reichen noch reicher; auch die Unterschichten konnten ihren bescheidenen Wohlstand mehren. Dies ließ vergessen, dass die Ungleichheit real wieder zunahm.

Die Tatsache der Klassengesellschaft wird nicht nur verschleiert oder ignoriert – sie wird zudem tabuisiert. Wie Nolte zu Recht feststellt, ist der „Sozialneid“ in der deutschen Öffentlichkeit zum Totschlagargument geworden; wer noch soziale Unterschiede anzusprechen wagt, bekommt oft reflexartig die „Du-schürst-den-Sozialneid-Bratpfanne auf den Kopf gehauen.“

Nolte plädiert für eine „neue Politik der Unterschichten“. Sie soll nicht mehr eine reine Verteilungspolitik sein, da Sozialleistungen allein keinen Aufstieg bewirken könnten. Schon jetzt würden die ärmeren Gesellschaftsgruppen über genug Geld verfügen, um es falsch zu investieren – etwa in ungesunde Fertiggerichte. Vor allem Kinder aus der Unterschicht seien übergewichtig, obwohl doch, wie Nolte vorrechnet, „jede zu Hause zubereitete Mahlzeit aus Kartoffeln und Gemüse, aus Vollkornbrot und Käse billiger zu haben ist als die Dauerernährung in Imbissbude und Schnellrestaurant“.

Nolte will die Transferleistungen nicht abschaffen, aber er will sie ergänzen: Die Unterschichten sollen erzogen, ihnen sollen bürgerliche Werte antrainiert werden. Das beginnt bei der Vollwerternährung und endet beim Gameboy, der ersetzt werden soll durch „die Lektüre eines guten Romans oder Sachbuchs“.

Spätestens bei diesem patriarchalen Programm für eine „neue bürgerliche Gesellschaft“ zeigt sich, welch seltene Mischung Nolte verkörpert: Obwohl er so genau wahrnimmt, wie sich in Deutschland eine neue Klassengesellschaft formiert, bleibt er ein konservativer Denker. Er will zurück; er will „die 68er“ ungeschehen machen, die nicht zuletzt die „Generation Golf“ erzogen und eine Gesellschaft der hedonistischen „Ich- AGs“ erschaffen haben. Nur eine Generation ist diesen mentalen Verwüstungen entkommen: die heute etwa 40-Jährigen, die ihre Kindheit „noch weit entfernt von dem materiellen und erst recht medialen Überfluss der darauffolgenden Generation Golf“ erlebt haben. Sie ernennt Nolte zur „Generation Reform“, sie sollen die „blockierte Republik“ in die neue Bürgerlichkeit führen. Wenn Nolte seine Feind- und Vorbilder formuliert, verliert er die bildungsbürgerliche Contenance, dann ist er nicht mehr der fein beobachtende Analytiker, sondern scheut nun seinerseits keine Klischee-Bratpfanne.

Gleichzeitig bleibt in den Texten oft unklar, wie die Einzelbeobachtungen und -vorschläge eigentlich zusammenhängen sollen. So bleibt offen, wie die Werteerziehung für die Unterschichten dazu führen könnte, dass sich die Kluft zwischen den Einkommen der Selbstständigen und der Angestellten wieder schließt. Nun ist es in einem Essay durchaus erlaubt, Fragen eher anzureißen, als sie zu beantworten. Doch wird das Prinzip der Skizze anstrengend, wenn es sich im Buchformat häuft. Wie Nolte im Nachwort selbst anmerkt, waren seine meist schon anderswo gedruckten Essays „ursprünglich nicht für diese gemeinsame Veröffentlichung konzipiert“. Das merkt man. Die Beobachtungen und Klagen wiederholen sich. Und auch die Hinweise auf Autoritäten wie Pierre Bourdieu, Anthony Giddens oder Robert Putnam. Noltes Schreibbaukasten wird so offensichtlich.

Sein Denken ist zudem recht elitär; dies fiel bereits bei seiner Habilitationsschrift auf, die 2000 unter dem Titel „Die Ordnung der deutschen Gesellschaft“ erschien. Gedacht war das Werk als eine „Geschichte der sozialen Selbstbeschreibungen“, die sich methodisch an der Diskurstheorie von Foucault orientiert: Die Wahrnehmungen und Erfahrungen aller Schichten sollten sich wiederfinden. Tatsächlich jedoch stützte sich Nolte vor allem auf die Schriften bedeutender Soziologen. Was sie dachten, so seine Arbeitsthese, dachten vermittelt auch alle anderen sozialen Gruppen. Ob diese Annahme tatsächlich zutrifft, hat Nolte nie überprüft.

Diese Selbstzufriedenheit findet sich nun in dem Vorschlag, den Unterschichten bürgerliche Werte anzuerziehen – und dazu passt, dass Nolte ausgerechnet seine eigene Generation zur „Generation Reform“ ernennt.

Paul Nolte: „Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik“. C. H. Beck, München 2004, 256 Seiten, 12,90 €