Hand im Schritt

Gegen Ekel, Weltschmerz, Langeweile: In Thomas Ostermeiers Inszenierung von Wedekinds „Lulu“ an der Berliner Schaubühne fallen die Dessous der Frauen früh und die Fassaden der Männer spät

VON SIMONE KAEMPF

Was für ein unschuldiges Mädchen. Wie staunend sie die glitzernde Party betrachtet, als würden sich ihr erstmals alle Möglichkeiten der Welt offenbaren. Wie neugierig sie wissen will, was sich in der verbotenen oberen Etage abspielt, auf dass sie dem lockenden Kellner dorthin folgt, der sich ungestört an ihr vergeht. Ein Mädchen, für das die Männer schon jetzt alle Moralvorstellungen beiseite schieben.

Die Kleine ist nicht Lulu, sondern Kadéga, die Tochter einer Pariser Adligen, die im vierten Akt von Wedekinds Stück ein paar Auftritte hat, aber sie gerät zur kindlichen Wiedergängerin. Alles stimmt überein: die Gesten, die Blicke, der aufrechte Gang, ähnlich dem Gang, mit dem Anne Tismer in den Sekunden nach der Missbrauchszene als moderne schaumgeborene Venus die große Treppe herunterschwebt. So könnte es also angefangen haben mit Lulu, dem „wilden, schönen Tier“, das den Männern in der Femme-Fatale-Schwülstigkeit der Jahrhundertwende das Fürchten lehrt, und so geht es im Prinzip den ganzen Abend lang: Variationen über eine Frau, die immer wieder in die Patsche gerät.

Den Gang durch die Zeit tritt Thomas Ostermeiers „Lulu“-Inszenierung in der Berliner Schaubühne in vielerlei Hinsicht an. Auf der Drehbühne bringt Jan Pappelbaum geschickt viele Räume des vergangenen Jahrhunderts unter: verstaubtes Maleratelier, spießiges Wohnzimmer, gestylte In-Bars. So wie die schweizerische Jungfrau, mit deren Zahnradbahn-Aktien die Männern ruinösen Handel betreiben, der höchste Berg des Berner Oberlandes ist, besitzt ein Raum die größte symbolische Bedeutung: eine Art H&M-Lieferanteneingang, über dem riesengroß ein Werbeplakat hängt. Naomi Campbell, Angie Everhart, Daniela Pestova – drei lachende Frauen in der neuen Reizwäsche-Kollektion.

Vielleicht hat Lulu an der Bushaltestelle ein Poster mitgehen lassen, aber sie ist keine von ihnen. Kein Supermodel, keine Schönheitskönigin, keine perfekte Überfrau. Michael Thalheimer hat die Lulu seiner Inszenierung für das Hamburger Thalia Theater als eine bewusste Inszenatorin der männlichen Fantasien gezeichnet. In Berlin lösen sich diese Grenzen bis zur Unkenntlichkeit auf. Nachmachen heißt bereits lernen, so Freud, aber Lulu ist ein verfangenes Kunstprodukt, das nicht mehr zur Reflexion fähig ist. An Tismer prallen die männlichen Zugriffe ab, als sei sie durch eine dicke Glasscheibe von den Männern getrennt. Nichts lässt sie an sich heran. Vielleicht sieht sie auch gar nichts, weil dieses trennende Glas zum unsichtbaren Spiegel wird, vor dem sie in wechselnden Dessous und Strapsen Posen übt: Hand in den Schritt, mit der anderen die Haare zerwühlen.

Eine Endverbraucherin, die zu Hause ihre Einkäufe ausprobiert und aus Erotikübungen in den Normalmodus zurückschaltet, wenn der Gatte handgreiflich wird. Um die Frage des erotischen Ernstfalls geht es nicht, sondern um die des eigenen Bilds, wenn rundherum eine permanente Lustbereitschaft signalisiert wird. Ständig ist vom Geschlechtsverkehr die Rede, blitzen Haut und Schenkel auf, aber jenseits solch künstlicher Appetitlichkeit ist der reale Vollzug für Lulu zu etwas zutiefst Ekligem geworden.

Ostermeier findet moderne, von Anspielungen an den Kunst- und Medienbetrieb gespickte Bilder für den Kampf, den Lulu führt. Ein einsamer Kampf gegen Ekel, Weltschmerz und Langeweile. Die Inszenierung ist voll von Brüchen, sie ist schnell, manchmal auch wunderbar treibend, streckenweise viel zu hastig, findet zu wenig ruhige Momente. Vor allem die Männerwelt sieht ziemlich alt aus: geldgierig, klassenbewusst, defensiv lebend in geordneten Besitz- und Herrschaftsverhältnissen, hinter denen Gerd Bröckmann als Schöning oder Thomas Bading als Maler Schwarz altväterlich Schutz suchen. Ein gefundenes Fressen für die Feminismusforschung eigentlich, aber auch das Exempel für die sinngebende Emanzipation, die es sich abgeschaut hat.

Die Fassaden fallen quälend langsam über die dreieinhalb Stunden, die das Stück dauert, aber das Warten auf das Ende lohnt sich. Wenn meisten Männer endlich tot sind, ist auch die Bühne vom bürgerlichen Plunder befreit und das übergroße H&M-Werbeplakat abgenommen. Der Weg jetzt frei für den endgültigen Abstieg Lulus, der zu einem kurzen Aufstieg gerät, in dem sich die Verhältnisse umkrempeln. In der Londoner Dirnenbehausung blüht sie, die zeitlebens mit dem Geld der Männer überleben musste, als Ernährerin der letzten überlebenden Männer zu letzten Höchstformen auf. Aber damit nicht genug erfüllte bürgerliche Frauenträume. Gefühle wie Angst und Wut zeigt sie, die vorher nicht einmal ihre Mundwinkel zucken ließen, und das „I love you“ ist an den Prostituiertenmörder Jack the Ripper gerichtet. Der Letzte soll der Erste sein, den sie liebte. Eine Möglichkeit, Unschuld herzustellen, die hier ganz ernst genommen wird und nicht ohne Peinlichkeit ausfällt. Die Geschundene, die zur Heiligen wird. Projektionsfläche nennt man das auch, die ist von dieser Frau einfach nicht loszubekommen.