Ein Autogramm von Helmut K.

Buchmessern (IV): Bei einer Debatte zu Fragen der Kunstfreiheit wurde in Leipzig einmal mehr die „andere Seinsform der Literatur“ beschworen. Doch beim Rundgang durch die Messehallen ist vor allem Medienkompetenz gefragt

Elke Monssen-Engberding, die Vorsitzende der „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“ in Bonn, konnte leider nicht nach Leipzig kommen. Sie hatte keinen Flug mehr bekommen, um der Einladung an einer Diskussionsrunde über „Bücher vor Gericht“ Folge leisten zu können – und eine Fahrt mit dem Zug erschien ihr zeitlich nicht vereinbar mit den vielfältigen Aufgaben einer Bundesprüfstellenvorsitzenden. Als der Moderator Denis Scheck die Absage von Monssen-Engberdings Sekretariat vorträgt, ist das Erstaunen im Auditorium der Mehrzweckhalle 1 des Leipziger Congress Centrums groß.

Wirklich vermisst wurde die Dame von der Bundesprüfstelle aber nicht – die Runde war auch so kompetent genug, um über die zuletzt zahlreichen gerichtlich ausgesprochenen und die Literatur in ihren Grundfesten erschütternden Buchverbote zu diskutieren.

Denn im Folgenden beleuchteten die verbliebenen fünf Herren, unter anderem der Schriftsteller und Anwalt Georg M. Oswald und Zeit-Literaturchef Ulrich Greiner, von allen Seiten den plötzlich massiv und scharfkantig auftretenden Gegensatz von dem Recht auf Kunstfreiheit und dem auf Privatsphäre. Wo fängt die Kunst an, gerade in Zeiten, in denen viele Journalisten und „mediokre Semipromis“ haufenweise Bücher schreiben? Wo muss der Schutz der Privat-, vor allem aber der Intimsphäre einsetzen? Wird auf dem Rücken der Literatur ein Kampf ausgetragen, der eigentlich mit der Talkshow-Inflation und dem damit verbundenen Exhibitionismus der Gesellschaft zu tun hat?

Wurden an diesem Buchmessendonnerstag wieder einmal die bekannt diffizilen Problemstellungen diskutiert – auch unter Einbeziehung von Thomas Mann und Klaus Mann, von Theodor Fontane und dem mit einer „Effi Briest“-Version viel erfolgreicheren Zeitgenossen von ihm, einem Autor namens Spielhagen –, so waren vor allem die Neuigkeiten interessant, die „Esra“-Verleger Helge Malchow sozusagen frisch aus dem Gerichtssaal hatte: Inzwischen, so Malchow, hätten die Anwälte der Gegenseite schon Rezensionen von Billers neuem Buch „Bernsteintage“ vorgelegt, um zu beweisen, dass Biller geradezu ein Wiederholungstäter sei und immer wieder sein eigenes sowie fremde Leben zu schlüpfriger und persönlichkeitsverletzender Literatur mache.

Ein begabter Schriftsteller werde auf diese Weise aus der Literatur expediert, orakelte Malchow düster, und auch Denis Scheck wusste von einem bekannten Schriftsteller, der ihn um Rat gefragt hätte, da er fürchte, für seinen im Herbst erscheinenden neuen Roman eine einstweilige gerichtliche Verfügung ins Haus gestellt zu bekommen.

Schwere Zeiten also für die Literatur. Biller habe mit „Esra“ einen gezielten Angriff auf seine Exfreundin geplant, ereiferte sich nach der Veranstaltung jedoch ein Kollege vom Radio, schon nach ein paar Seiten sei das klar gewesen. Die Figur der Esra und ihrer Mutter habe man schlicht und einfach per Google rausfinden können! Aber welcher Leser ergoogelt sich schon die realen Personen hinter den literarischen Figuren?

Mit der „anderen Seinsform“, in der sich die Literatur laut Malchow nun einmal befinde, ist das allerdings auf einer Buchmesse so eine Sache: In Leipzig ist vor allem knallharte, diesseitige Medienkompetenz gefragt.

Auf dem blauen Sofa etwa, wo Feridun Zaimoglu flockig-elaboriert sein neues Buch vorstellt („Ich will das Deutsch-Romantische wieder aufleben lassen“), kein Problem damit hat, über seinen in die Türkei zurückgekehrten Vater zu sprechen („ein knarziger Mensch mit bitterbösem Humor“), und sich schließlich mit Küsschen rechts, Küsschen links von der Moderatorin verabschiedet. Der nach Zaimoglu auf dem blauen Sofa Platz nehmende Jeffrey Eugenides wirkt dagegen schüchtern und blass, und zunehmend verschwindet auch das Publikum, um sich lieber von den Anekdoten eines Klaus Wagenbach und den Independent-Litaneien seiner Frau Susanne Schüssler unterhalten zu lassen.

Oder um sich bei Helmut Kohl ein Autogramm zu holen: Halb Leipzig scheint dafür auf den Beinen zu sein – darunter auch der notorische Benjamin von Stuckrad-Barre, dem in Sachen Medienkompetenz so leicht niemand etwas vormacht.

Und schließlich muss man auch Salomon Korn ein gewisses Inszenierungstalent attestieren: Am Tag nach dem von ihm verursachten „Skandal“ auf der Eröffnungsfeier spricht der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in jedes Mikrofon, das ihm entgegengestreckt wird, und warnt vor der Gefahr des in Osteuropa immer noch lauernden und „nicht hinreichend aufgearbeiteten Antisemitismus“.

Nur im Zusammenhang mit dem Deutschen Bücherpreis nützt alle Medienkompetenz überhaupt nichts: Wer hier nominiert ist, hat es schwer, zu strahlen und sich zu verkaufen. In diesem Jahr wirkte es, als kämpfe dieser mit einer Gala verbundene Preis heftigst für seine schleunigste Abschaffung.

Abgespeckt auf nur noch sechs statt zwölf Kategorien, in denen – bis auf die Kinderbuchautorin Mirjam Pressler für ihr Lebenswerk und die in Berlin lebende Türkin Yadé Kara – keine deutschen Schriftsteller einen Preis gewinnen konnten, ging die Zeremonie müde-routiniert über die Bühne. Das war so leblos, dass man sich beim Zuschauen inständig den Trash aus dem ersten Jahr zurückwünschte.

Da half selbst der schöne Auftritt von Anna Thalbach nichts, die einen Text ihres Vaters Thomas Brasch vortrug, „Warum spielen“. Und auch nicht der rührende und ehrliche Auftritt von Yadé Kara, die für das beste Debüt ausgezeichnet wurde, und der es bei ihrer kurzen Danksagung glaubhaft Oscar-mäßig die Sprache verschlug: „Ich bin so aufgeregt, ich kann jetzt nichts mehr sagen.“ GERRIT BARTELS