„Der Spieler ist Gott“

Eine Situation der unbegrenzten Macht: Ein Gespräch mit Harvey Smith, dem Produzenten des Computerspiels „Deus Ex“, über das Erzählmedium der Zukunft und darüber, was geschieht, wenn ein Spieler gegen seinen Willen in eine Schießerei gerät

INTERVIEW TOBIAS MOORSTEDT

taz: Mr. Smith, das ist ihr zehntes Interview heute Morgen. Ihr Pressesprecher wartet draußen und schaut auf die Uhr. Fühlen Sie sich in letzter Zeit manchmal wie ein Filmstar?

Harvey Smith: Wenn, dann bin ich eher der Regisseur, die Person mit der Vision. Wir haben mit einem 60 Mann starken Team zweieinhalb Jahre an dem Spiel gearbeitet. Die Entwicklungskosten betragen mehr als 5,5 Millionen Dollar. Das ist zwar noch nicht ganz Blockbuster-Dimension, aber es wird alles immer größer. Schon lustig: Wir bekommen diese Hollywood-Behandlung. Unsere Synchronsprecher für die deutsche Version sind übrigens die Stimmen von Julia Roberts und Brad Pitt.

Im Jahr 2003 setzte die Videospielbranche zum ersten Mal mehr Geld um als die Filmindustrie. Werden Videospiele zum primären Erzählmedium?

Was uns vielleicht fehlt, sind menschliche Schauspieler, echte Gesichter, Falten, Leberflecke, Makel. Das ist ein gewisser Verlust an Natürlichkeit, aber das Videospiel hat andere Möglichkeiten, um Nähe zu erzeugen. Unser wichtigstes Stilmittel ist die Ich-Perspektive. Die verwenden wir auch in „Deus Ex“. Der Spieler betritt selbst das Spielfeld. Being Odysseus, being Lancelot, being Harry Potter.

Bevor Sie vor zehn Jahren begannen, an künstlichen Welten zu arbeiten, waren Sie unter anderem als Schriftsteller tätig. Was macht eine gute Story aus?

Ich glaube, es gibt eine Urform des Mythos, auf die man alle Geschichten, die jemals erzählt wurden, zurückführen kann. Eine Figur verlässt ihr Zuhause, erlebt ein Abenteuer und kehrt zurück an den Kamin. „Deus Ex“ funktioniert natürlich auch nach diesem Prinzip, aber es ist ein komplexes Abenteuer, ein Genremix. Das wirklich Besondere ist, dass der Spieler das Spiel als Ereignis durchlebt und nicht als vorgegebenes Produkt konsumiert. Ich mag keine Puzzles. Wenn man die Einzelteile vor sich hat, kann man – gewisse Kapazitäten vorausgesetzt – schon das Bild sehen, ohne je ein Puzzleteil angefasst zu haben. Hier ist das unmöglich. Man kann nicht vorspulen und das Finale sehen. Allein die Entscheidungen des Spielers bestimmen den Spielverlauf.

Das klingt so, als würde da ein altes Versprechen der Videospielkultur endlich eingelöst. Wie es der Altmeister Doug Church mal gesagt hat: „Das Ziel ist die Abdankung der Autoreninstanz.“

Ja. Aber das ist keine charmante postmoderne Metapher, sondern unser Konzept. Der Autor bestimmt das Setting und den Plot, der Spieler schreibt die Geschichte. Wie zum Beispiel kommt man durch eine verschlossene Tür? Nimmst du den Granatwerfer, den Dietrich, oder kriechst du durch einen Lüftungsschacht? Vielleicht flirtest du ja mit dem Wächter. Es kommt auf deinen Stil an. Und vielleicht fällt dir etwas ein, worauf ich nie gekommen wäre. Unsere Räume nennen wir possibility spaces, also Räume, in denen unterschiedliche Möglichkeiten erprobt werden können. Daraus folgt dann aber auch: Die gewählte Lösung hat spezifische Konsequenzen und entwickelt eine eigene Dynamik. Eine Sprengung etwa ist von anderen Figuren im Spiel zu hören – vielleicht musst du dann ganz schnell rennen.

Das klingt ein wenig paradox. Das Spiel ist doch programmiert, vorprogrammiert sozusagen?

Früher waren alle Videospiele komplett gescriptet. Das bedeutet, dass man nur tun kann, woran auch der Programmierer gedacht hat. „Deus Ex“ ist nur noch zu 40 Prozent gescriptet. Wir arbeiten mit einer Technik, mit der wir allen Gegenständen, Räumen und Figuren bestimmte Wirkungsmechanismen einschreiben. Wir entwickeln sozusagen eine Game-Physik. Das ermöglicht ein großes Maß an Freiheit für den Spieler.

Und was fängt man mit dieser Freiheit an?

Es gibt so genannte subversive Spieler, die eigene Interessen und Ziele entwickeln und nicht mehr die vorgeschlagene Storyline verfolgen. In „Deus Ex“ gab es zum Beispiel Tretminen. Ein paar Spieler haben die aber nicht benutzt, um etwas in die Luft zu jagen, sondern haben sich mit den Bomben eine Trittleiter gebaut, um Wände hochzuklettern. Irgendwann krabbelten sie dann aus der Spiellandkarte heraus.

Endlich erfahren wir es: Was befindet sich im Jenseits?

Das sind Programmiererspäßchen. Man steht dann auf einem Würfel, der das Universum enthält, unter einem endlosen Sternenhimmel, und da stehen eine Lampe und ein leeres Sofa.

Vielleicht ist Gott gerade auf der Toilette.

Wir hätten nicht gedacht, dass das mal jemand zu sehen bekommt. Aber die Leute lieben es. In einem Brief beschrieb das einer mal als spirituelles Erlebnis.

„Deus Ex“ zeigt ein gewalttätiges Szenario. War die Diskussion um Gewalt in Videospielen während der Produktion ein Thema für Sie?

„Deus Ex“ kann ein gewalttätiges Spiel sein, aber es ist auch eine gewalttätige Welt da draußen. Warum sollten wir bunte Märchenwelten zeichnen? Das wäre doch unrealistisch.

Das US-Militär benutzt Videospiele als Rekrutierungsmittel und virtuelles Bootcamp, um die Hand-Augen-Koordination zu schulen und den Soldaten die Tötungshemmung abzutrainieren.

Ich weiß. Für meine Branche ist das eine zwiespältige Sache. Man will sich ja nicht zum Werkzeug des Pentagons machen lassen, sondern gute und aufregende Spiele schreiben. Bei uns aber wird das Schießen nicht glorifiziert. Wir zeigen ohne Sensationslust die verheerende Wirkung einer Kugel. Der Spieler soll sehen, was er da anrichtet.

In „Deus Ex“ kann man auch ohne Gewalt durch das Spiel kommen. Mit List und Verhandlungsgeschick etwa. Erhält das Spiel dadurch eine moralische Komponente?

Das kommt wahrscheinlich auf den Spieler an. Ich hatte beim Testspielen mal eine schreckliche Situation. Ich wurde gegen meinen Willen in eine Schießerei verwickelt und erschoss versehentlich ein kleines Mädchen. Es war erschütternd. Ein Passant in dem Spiel sagte zu mir: „Was machst du da? Das sind doch Menschen.“

Will man den Grenzen und Normen der Realität im Videospiel nicht entkommen? Den Bedenkenträgern und der Schwerkraft?

Prinzipiell denke ich, dass Ethik stark mit Geschwindigkeit verbunden ist. Bei „Counterstrike“ zum Beispiel killt man in zehn Minuten 100 Gegner und stirbt selbst fünfmal, denkt aber keine Sekunde darüber nach. Keine Zeit. Unser Spiel macht auch mal Pausen, gibt Zeit, zu reflektieren, was man gerade getan hat. Ich finde es schade, dass immer nur nach einfachen Prinzipien gespielt wird. Wer ist der Schnellste? Wer zielt am besten? Niemand hat je versucht, soziale Beziehungen in einem Videospiel zu thematisieren.

Nun gibt es Spiele wie das Rollenspiel „Ultima Online“, wo ein interaktiver Kosmos geschaffen wird, in dem die Spieler viel Zeit investieren, Karriere in virtuellen Berufen machen und mit anderen Spielern interagieren. Braucht ein solches Spiel nicht feste Normen?

Sie haben Recht. Die Figuren sind die Repräsentationen echter Menschen. Das erfordert soziales Verhalten. Aber manche Kids ziehen wie Beavis und Butthead durch die Spielwelt und bringen Leute zum Spaß um. Ein Freund von mir hat bei „Ultima Online“ mal einen Mann umgebracht, um dessen Schiff zu klauen. Der „Ermordete“ schrieb ihm dann eine E-Mail aus dem Jenseits: „Ich habe so viel Zeit in diese Figur gesteckt. Warum tust du das?“ Mein Freund lacht, wenn er die Geschichte erzählt, aber in Wahrheit fühlt er sich schlecht.

„Deus Ex“ spielt in einer düsteren Zukunft. Eine apokalyptische Welt von morgen, mit Menschenklonen und totaler Überwachung. Halten Sie es für gerechtfertigt, dass Ihr Spiel manchmal mit „Blade Runner“ verglichen wird?

Unser Spiel ist in der Zukunft angesiedelt, aber es ist ein Kommentar zur Gegenwart. Die Probleme im Spiel existieren doch schon alle: Macht, Korruption, Krieg und Gier. Wir stellen die Frage, wie sich ein Individuum in diesem Szenario noch seine Freiheit sichern kann. In „Deus Ex II“ ist der Protagonist ein Klon. Es geht um Nanotechnik und die Versprechen der Wissenschaft. Wie soll man mit diesen Möglichkeiten und Gefahren umgehen? Eigentlich ist es ein Spiel über das Konzept der Wahl. Welche Konsequenzen haben meine Handlungen?

„Deus ex Machina“ ist ein Stilmittel der griechischen Tragödie. Situationen, die aus der Handlung heraus nicht aufgelöst werden können, werden da durch das Eingreifen einer Gottesfigur gelöst.

Stimmt. Der Titel ist eine Verkürzung des lateinischen Ausdrucks. Bereits die Science-Fiction-Literatur hat den Terminus übernommen – und da haben wir ihn auch her. Es ist einfach auch ein cooler Name. Die meisten Spieler sprechen ihn allerdings falsch aus. „Duus Ex“ oder „Djius“. Amerikaner können eben kein Latein. Es geht prinzipiell darum, wie man diese verzwickte Situation auflösen kann. Ohne übernatürliche Wesen.

In der Tragödie schwebte die Gottesfigur in einer kranartigen Maschine über der Bühne. Wo steckt Gott bei Ihnen? In der Videospielkiste?

Der Spieler ist Gott. Die Kontrolle über Gen- und Nanotechnik ist doch eine Situation der unbegrenzten Macht. Es gibt viele Auflösungen der Geschichte in dem Spiel. Aber an einem Ende, dem Happy End oder so, teilt sich die Menschheit friedlich die Technologie und erhält unbegrenzte Ressourcen. Verteilungskämpfe wären dann nicht mehr notwendig. Ein schöner Gedanke. Aber so muss es ja nicht kommen.