Nachfolger des Propheten

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Die Statistik ist eine nationalistische Wissenschaft, wenn sie sich mit Demografie befasst

In den nächsten Jahrzehnten werden im Osten, wenn Sie die Zahlen auf Städte umlegen würden, ganz Dresden, Leipzig und Erfurt verschwinden. Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg hat mir gerade einen Aufsatz geschickt, in dem steht der lapidare Satz: „Da die vor 30 Jahren nicht Geborenen heute als potenzielle Eltern fehlen, könnte jetzt die beste Familienpolitik mangels Adressaten das Blatt nicht wenden.“ Deutschland ist damit nicht allein. Ab dem Jahr 2020 wird es allein in China weit über eine Milliarde 65-Jährige geben. Die Welt wird altern … Frank Schirrmacher im Interview, „Tagesspiegel“, 28. 3. 2004

Das ist ein interessantes Problem, das die Kollegen ebenso wie das Publikum schon länger quält. Der Journalist stellt sich nicht in die Reihe, in die er gehört, die Reihe der Märchenerzähler, Marktschreier, Clowns, Akrobaten. Er beansprucht die Nachfolge der Propheten.

Er liest die Zeichen der Zukunft – womit er sich von den Märchenerzählern oder Marktschreiern gar nicht so weit entfernt hat, denn unter ihnen befinden sich ja auch die Wahrsager und Handleser. Spaziert man durch eine amerikanische Stadt, dann wundert man sich über die vielen kleinen Schmuddelläden, in denen ein palmist seine Dienste anbietet.

Von solchen Scharlatanen wissen sich jedoch Dr. Schirrmacher, Prof. Birg und ihresgleichen weit entfernt. Sie lesen ja keine Karten, Stierlebern oder den Vogelflug – Auguren hießen ihre Vorläufer in der Antike –, sie verfügen über das kältest Sachliche vom Sachlichen, Zahlen.

Die Statistik liefert den Wahrsagern der Gegenwart ihre Stierleber; und die Gewissheiten der Statistik haben die des Vogelflugs abgelöst. Das Problem ist nie, dass man die Zeichen der Zukunft gar nicht, das Problem ist immer nur, dass man sie falsch deuten könnte. An und für sich steht die Zukunft irgendwo unsichtbar geschrieben. Herodot (ca. 490–420 BC) erzählt höhnisch von dem Hasen, den ein Pferd geboren habe auf dem Feldzug der Grande Armée, die der Perserkönig Xerxes gegen Griechenland führte: An diesem Hasen hätten jeder Dr. Schirrmacher und jeder Prof. Birg schon erkennen können, dass der Krieg für Xerxes schlecht ausgeht.

Allerdings, wie wir im Unterschied zu Herodot wissen, gebären Pferde keine Hasen. Damals war das seherische Lesematerial schlicht verderbt. Unser Lesematerial, die Zahlen, besitzen dagegen eine Aussagekraft, die über jedem Zweifel steht. Ein selbstkritischer Statistiker, bei dem ich mal studiert habe und der – wie ich immer wieder gern erzähle – bemerkenswerterweise mit Nachnamen Blind hieß, erzählte seinerseits immer wieder dem Grundkurs die Geschichte von den schwedischen Störchen und der schwedischen Geburtenrate. Die Zahl der Störche ging in Schweden drastisch zurück, ebenso die Zahl der Geburten. Warum wohl?

Prof. Birg ist kein selbstkritischer Statistiker. Er ist von Glaubensgewissheit durchdrungen und hat all die kulturkritischen Deutungen parat, mithilfe deren seinesgleichen die Zahlen in die Schrift an der Wand transformieren. Die junge Frau und der junge Mann denken immer nur an sich selbst statt an das deutsche Volk, das sie durch Nachwuchs fortpflanzen sollen. In diesem Egoismus unterstützt sie die moderne Lebensweise, weshalb die finstere Zukunft ganz unabweisbar ist (woraufhin Dr. Schirrmacher wieder einmal die Notwendigkeit einer Revolution, einer geistig-moralischen Wende ausrufen darf).

Wenn Sie sich mit der Geschichte der Statistik befassen, stoßen Sie regelmäßig auf diese Argumentation. Immer schon gebaren deutsche (französische, italienische usw.) Frauen zu wenige Kinder; die Statistik, wenn sie sich mit diesen Dingen befasst, ist eine nationalistische Wissenschaft. Dabei liegt das Problem nicht darin, dass die Zahlen falsch wären. Das Problem entsteht durch die Interpretation, mit der man die Zahlen aussagekräftig macht, eine Interpretation, die unendlich viele Elemente ganz anderer Art mitverarbeiten muss.

So sorgten sich die nationalistischen Statistiker der Vergangenheit, dass die deutsche Frau dem Kaiser zu wenig künftige Soldaten schenke. Dass der Krieg hoch technisch wurde und weniger Soldaten brauchte, versuchten sie gar nicht erst zu erahnen; die Zahlen waren doch eindeutig! Den Schock lieferte der Erste Weltkrieg, in dem die Massenheere einander blockierten und die Panzer Entscheidungen herbeiführten. So wird auch die reduzierte Bundeswehr 2020 an der Friedensmission in Lateinamerika mitwirken können …

Bleibt Dr. Schirrmacher. Er ist von Haus aus Literaturwissenschaftler und an die Vieldeutigkeit aller textuellen Botschaften gewöhnt, eine Vieldeutigkeit, die sehnsüchtig nach harten und schweren Zeichen macht. Als ich jung war, ließ diese Sehnsucht die Germanisten in die Linguistik abwandern. Oder in den Stalinismus.

Prof. Birg ist von Glaubensgewissheit durchdrungen und hat all die kulturkritischen Deutungen parat

Jetzt also die Geburtenquote. Wobei wir im Gedächtnis festhalten wollen, dass Dr. Schirrmacher als Frankfurter Mitherausgeber eigentlich ununterbrochen schwere Prophezeiungen absondert, jede Saison trägt er uns über eine neue Epochenschwelle. Gern erinnere ich mich als Beobachter von „Star Trek“ an die Nanotechnologie, wie ihre Umarbeitung unserer Körper in der Zukunft Dr. Schirrmacher erschütterte. Dass sein Feuilleton mit allen geistig-moralischen Waffen des Neokatholizismus die Gentechnologie bekämpft, gehört ebenso hierher: Wollen doch mal sehen, ob wir diese Zukunft nicht verhindern können (dann braucht man sich keine Gedanken darüber zu machen, wie sie aussehen mag). Darin entsprach das Feuilleton dem tiefen Pessimismus und Konservatismus der aufgeklärten Mittelklassen, die seit langem die schwärzesten Prophezeiungen am besten goutieren. Früher war’s das Verschwinden der Blondhaarigen durch ihre Ehen mit brünetten Juden, heute ist es – tragen Sie selbst Ihre Lieblingsbefürchtung hier ein.

Man müsste, machte neulich auf der Leipziger Buchmesse ein depressiver Schub den Kollegen D. sagen, den Journalismus neu erfinden. Ich konnte dazu eine amerikanische Philippika beisteuern: Die Kollegin E. kritisierte ihre Medien dafür, wie sie den Vorwahlkampf der Demokraten gecovert hatten. Keiner beschäftigte sich ernstlich mit der Person und der Politik der Kandidaten. Alle waren dauernd nur am Prognostizieren und Prophezeien, wer gewinnen würde; der Angriff der Zukunft auf die gegenwärtige Zeit.

Warum beschreiben und analysieren die Journalisten nicht das, was ist? Der anhaltende Wettkampf der Wahrsager macht vergessen, dass es mit der Vorhersagekunst insgesamt schlecht steht. Nehmen wir etwa nur die großen Ereignisse. Wer hat Gorbatschow prophezeit? Wer wusste den Untergang der SU und des gesamten Ostblocks vorweg? Wer war darauf eingestellt, dass sich nach dem Kalten Krieg sogleich eine neue Front aufbaut, zwischen der modernen Welt und dem militanten Islam? – Ich weiß, Peter Scholl-Latour hat es vorausgesagt; er übertrifft jeden, wenn es darum geht, hinterher alles schon vorher ganz genau gewusst zu haben.