Keine Heimat Nimmerland

Wendys Wunscherfüllungen: P. J. Hogans Realfilmversion von „Peter Pan“ besticht durch Einfallsreichtum und die Liebe zum Detail

Ausgerechnet in Zeiten, in denen die weltweite Unterhaltungsindustrie in versammeltes Wehklagen einstimmt über die bösen Musik-, Software- und Filmpiraten, erleben die Freibeuter auf den Leinwänden ihr überraschendes Comeback. Nach dem Erfolg von „Fluch der Karibik“ wurden nun für „Peter Pan“ die Requisitenlager der Hollywoodstudios geplündert und Holzbeine, Augenklappen und knarrende Schiffsplanken hervorgekramt. Nur – so viel ist man vermutlich dem Anti-Piraterie-Kurs schuldig – zu Helden der Geschichte wollen sie nicht mehr so recht taugen. Errol Flynn oder Burt Lancaster hätten in den aktuellen Filmproduktionen kaum einmal Nebenrollen bekommen, erst recht nicht mit nacktem Oberkörper. Im „Fluch der Karibik“ sind die Piraten mit so viel Schmuck und buntem Stoff behängt, dass es locker für einen ganzen Kostümball reichen würde. Die Botschaft ist klar: Kostüme sind etwas für Frauen und Kinder, und es ist kein Wunder, wenn dermaßen zurechtgestutzte Piraten von einem Mädchen besiegt werden, das beschlossen hat, erwachsen zu werden.

Der Junge, der hingegen niemals erwachsen werden will, heißt bekanntlich Peter Pan. Der Kuss, den Wendy (Rachel Hurd-Wood) dem eigentlich bereits geschlagenen Titelhelden (Jeremy Sumpter) kurz vor Filmschluss auf die Lippen drückt, schenkt diesem nicht nur die Kraft, seinen sinistren Erzfeind Käpt'n Hook (Jason Isaacs) über die Planke zu schicken, sondern ist zugleich ihr Abschiedskuss aus Nimmerland. Denn wenn sie länger bliebe, wäre sie auf ewig ein Kind, und Küsse wären immer bloß Eicheln. Riesenhafte Krokodile und fliegende Kinder, alles hat die Piratenmeute schon gesehen, bloß das nicht. Der Schock ist so groß, dass es sie glatt vom Schiff fegt.

Steven Spielberg hatte in „Hook“ die Geschichte noch von hinten aufgezäumt und aus der Sicht eines erwachsenen Peter Pan erzählt, der wieder das Kind in sich entdecken musste. Zum hundertjährigen Jubiläum der Bühnenpremiere des Stücks von J. M. Barrie kehrt Regisseur P. J. Hogan nun zur Originalvorlage zurück, und erstaunt bemerkt man, dass sich unter all dem zuckersüßen Beiwerk so etwas wie eine Coming-of-Age-Geschichte abzeichnet. Wie ihre viktorianischen Schwestern Dorothy im zauberhaften und Alice im Wunderland, muss auch Wendy den Weg zurück aus einer Welt finden, die Wunscherfüllung und Falle in einem ist. Hier steht die Zeit still, weil das Krokodil die einzige Uhr gefressen hat. So kann einem zwar kein Erwachsener jemals eine Bettzeit vorschreiben, aber Peter Pan wird eben auch der ewig präpubertäre Flegel bleiben, den Wendy sich nicht als Prinzen erträumt hat. Wie sagte Dorothy im „Zauberer von Oz“? „There is no place like home“, das bedeutet: Es ist nirgends schöner als daheim, aber auch: So etwas wie ein Zuhause gibt es nicht, nicht in Nimmerland und nicht in London, weil das leidige Erwachsenwerdenmüssen alles durchkreuzt.

Aber zu wissen, dass es Feen gibt, das hilft auch nach der Rückkehr eine Menge. Und davor gilt es, noch einige Abenteuer zu bestehen und die Wunder von Nimmerland zu entdecken. Die stecken in den Details. „Peter Pan“ zeigt, wie die schönste Fantasie ihre Wirkung dann am besten entfaltet, wenn der Witz in den scheinbaren Nebensächlichkeiten steckt: dem einbeinigen, vorlauten Papagei und der sauber polierten Hakensammlung von Käpt'n Hook. Im Teddy, der in Ketten gelegt wird und unter Wasser lauter traurige kleine Luftblasen ausatmet. In der Figur von Glöckchen (Ludivine Sagnier), die keine Unschuldsfee ist, sondern ein blondes eifersüchtiges Biest. DIETMAR KAMMERER